Sie reden nicht, die Protagonisten von „Das große Rauschen“. Zumindest nicht in Sprechblasen. Jeweils vier Panels hat jede einzelne Comicseite des extrem querformatigen Albums (Ansicht unter https://www.dieterjuedt.com/?page_id=81), und die Texte dazu stehen jeweils darüber. Manchmal gibt es wörtliche Rede, doch meist folgen wir als Leser einem stream of consciousness, der uns durch eine Stadt begleitet, die ihrerseits zu den Figuren spricht – durch das titelgebende Rauschen des Lebens in ihr.
Die Stadt ist Berlin, auch wenn dieser Name nicht fällt. Aber die Orte erkennt man, die Stimmung, die Menschen. Und schon auf der ersten Seite ist vom Palast der Republik die Rede. Wir sind also in einer Geschichte, die zurückgeht in die Erinnerung an die Stadt Berlin und ihre Wandlungen. Und es ist nicht nur eine Geschichte, sondern es gibt deren fünfzig, jede eine Seite und vier Panels lang. Doch sie folgen aufeinander wie ein Fluss.
Vor zwölf Jahren haben Kai Pfeifer und Tim Dinter in den „Berliner Seiten“ der F.A.Z. einen Comic nach ähnlichem Konzept gezeichnet: „Der Flaneur“. Aber der war, wie es dieser Fortsetzungsplatz erforderte, als Säule angelegt: also vertikal statt horizontal. Und waren Pfeiffers und Dinters Protagonisten meist tagsüber unterwegs, sind die in „Das große Rauschen“ Geschöpfe von Tag und Nacht gleichermaßen. Über allen Tageszeiten aber liegt ein bronzerotes Licht.
Gäbe es eine Farbe, die für Dieter Jüdt, den Zeichner von „Das große Rauschen“, steht, dann wäre es solch ein Bronzerot. Es prägte schon „Viriconium“, den ersten Comic, mit dem der 1963 geborene Jüdt Aufsehen erregte – vor dreizehn Jahren. Der war nach einem Roman des britischen Science-Fiction-Autors M. John Harrison entstanden und brachte eine kafkaesk wirkende Mischung aus Phantastik und Archaik aufs Papier, die zuvor nur Reinhard Kleist in seinem „Lovecraft“-Comic erreicht hatte. Jüdt war dennoch als ein Solitär erkennbar, vor allem als er im Jahr danach den Band „Engel – Pandoramicum“ folgen ließ, im selben Stil, nur diesmal schwarzweiß. Diesmal hatte er ein Szenario des deutschen Phantastik-Schriftstellers Kai Meyer umgesetzt.
Danach habe ich ein Dutzend Jahre lang nichts mehr von Jüdt gesehen; keine Bildergeschichten zumindest, als Illustrator tauchte er bisweilen noch auf. Und nun kehrt er mit „Das große Rauschen“ zu den Comics zurück. Ein großes Publikum wird er damit nicht finden, denn das in der Edition Panopticon des Berliner Verlagshauses J. Frank erschienene Buch ist mit 39,90 Euro ziemlich teuer. Aber es lohnt die Lektüre. Und es sieht wunderschön aus, wenn man Coolness als ästhetisches Prinzip goutiert.
Wieder hat Jüdt nach einer fremden Vorlage gearbeitet; diesmal nach der bislang noch nicht als Schriftstellerin in Erscheinung getretenen Berliner Graphikdesignerin Verena Postweiler, siebenunddreißig Jahre alt. Man darf wohl Freundschaft unter Kollegen unterstellen. Aber die Texte sind gelungen, sie haben ein sachliches Pathos, das dem Großstadtlebensgefühl abgelauscht ist. Und Jüdt illustriert sie nicht nur, er interpretiert sie. So werden aus einzelnen Worten gezeichnete Seitenwege, die eine parallele Geschichte erzählen. Und das in jeweils nur den vier gleichgroßen Panels, die als strenges Raster fungieren.
Es sind also klassische Comic-Strips, aber kein Periodikum hat sie vorabgedruckt, sondern man bekommt das ganze Konvolut auf einmal, schön unterteilt in fünf Kapitel, die jeweils mit einer architektonischen Einzelillustration eingeleitet werden. So entsteht ein Rhythmus der Lektüre, der tatsächlich einem Gang durch die Stadt gleicht: ständig neue Perspektiven, Menschen, Gesprächsfetzen, Ablenkungen. Es ist erstaunlich, was da geboten wird. Und ein Jammer, dass bislang so wenige Comicfreunde wissen, dass Dieter Jüdt zurück ist.