Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Warum tut man diesem Leiden solches Leid an?

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Vor neun Jahren starb Sarah Leavitts Mutter. Sie hatte Alzheimer. Was bedeutet das für eine Familie? Darüber erzählt die kanadische Autorin eindrucksvoll. Aber sie musste das Geschehen auch zeichnen. Und das ist alles andere als eindrucksvoll geraten.

Ach je, irgendwann hat man es leid, alles und jedes als „Graphic Novel“ kategorisiert zu sehen, weil sich das gerade gut verkauft. So auch Sarah Leavitts Buch „Das große Durcheinander“ – angeblich „die erste Graphic Novel zum Thema Alzheimer“ und „als erste Graphic Novel für den Sachbuchpreis der Writer’s Trust of Canada nominiert“. Nun wissen wir nicht, ob letzteres Faktum erwähnenswert ist, aber die erste Graphic Novel zum Thema Alzheimer ist diese Bildergeschichte sicher nicht. Denn da gibt es ja das Bilderbuch „Daran erinnere ich mich gern“, über das ich schon vor dreieinhalb Jahren geschrieben habe – eine praktische Hilfe fürs Gedächtnistraining von Demenzkranken (https://blogs.faz.net/comic/2009/11/11/mit-bilderbuechern-gegen-demenz-99/). Und wenn Leavitts Buch eine Graphic Novel ist, dann das von Beate Wolf und Thomas Haubold allemal.

Beides sind natürlich keine Graphic Novels, aber das wird man Verlagen, die alle unbedingt welche im Programm haben wollen, wohl nicht mehr klarmachen können. Sobald Bild und gezeichnetes Text auf einer Seite auftauchen, ist die Sache verloren. Mal schauen, wie lange es dauert, bis endlich mal ein klassisches Bilderbuch, etwa von Wolf Erlbruch oder Lisbeth Zwerger zur Graphic Novel „geadelt“ wird.

Dabei müssten es Häuser wie Beltz, einer der großen deutschen Bilderbuchverlage, doch besser wissen. „Das große Durcheinander“ (im Original 2010 erschienen und „Tangles“ betitelt) ist eine sehr persönliche Geschichte, die von der Alzheimer-Erkrankung erzählt, die Ende der neunziger Jahre bei der Mutter der kanadischen Autorin und Cartoonistin Sarah Leavitt ausgebrochen ist. Es geht im Buch um die Belastung für die Familie, um den Verlust der Persönlichkeit der Mittfünfzigerin, um die verzweifelten Versuche, ihr noch so etwas wie Normalität zu verschaffen. Es geht aber auch um die Emanzipationsgeschichte der älteren von zwei Töchtern einer säkularen jüdischen Familie, die als Studentin ihr lesbisches Coming-Out hat und am Ende des Buchs, unter dem Eindruck der Ereignisse, Trost in den Ritualen der längst abgelegten Religion findet.

Alles eindrucksvoll, aber leider eine Geschichte, die so aussieht, als hätte sich jemand daran versucht, der noch nie im Leben vorher einen Comic gesehen hat (Leseprobe unter https://www.beltz.de/de/ratgeber/beltz-ratgeber/titel/das-grosse-durcheinander.html). Interessante Seitenarchitektur? Fehlanzeige. Graphisch gelöste Dialogführung? Nicht vorhanden. Handwerkliche Souveränität? Nichts davon. Ich weiß, dass kindlich-schlichte Zeichnungen derzeit in Mode sind. Aber „Das große Durcheinander“ legt die Latte so tief, das es schmerzt.

Als Comiczeichnerin also ist Sarah Leavitt eine Fehlbesetzung. Als Autorin dagegen nicht, und es ist schön, dass der Beltz Verlag mit Andreas Nohl einen versierten Übersetzer (Mark Twain, Robert Louis Stevenson, Bram Stoker) engagiert hat. Der erzählerisch-assoziative Tonfall, als blättere man ein Erinnerungsalbum durch, ist sehr gut getroffen, doch die Bilder! Solche ein Erinnerungsalbum möchte man um keinen Preis aufschlagen.

Natürlich könnte man argumentieren, dass hier das kindliche Verhältnis zur Mutter abgebildet werden sollte. Aber das ist Nonsens, es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Sarah Leavitt anders hätte zeichnen können. Dieses Sachbilderbuch (und das ist es, keine Graphic Novel) ist ein weiterer Beleg dafür, dass weder Autoren noch Rezipienten mehr verstehen, in was für Kategorien sie arbeiten respektive lesen. Hätte Sarah Leavitt die Erinnerungen an das Sterben ihrer Mutter aufgeschrieben statt aufgezeichnet, wäre ein eindrucksvolleres Buch dabei herausgekommen. Aber es musste ja „die erste Graphic Novel zum Thema Alzheimer“ sein. Ist es eigentlich Zynismus, wenn Form gar nichts mehr und Marketing alles bedeutet?


1 Lesermeinung

  1. ChKnappe sagt:

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    Ich halte von einer solchen Zergliederung nichts. Per se. Dasselbe gilt für die Sucht nach Kategorisierung. Einfach machen lassen ohne Raster. Einfach mal locker bleiben. Vielleicht rückte das die Beiträge des Verfassers in ein besseres Licht. Das jedenfalls ist nix.

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