Na bitte, geht doch. Fünf Bände mussten wir abwarten, unglaubliche Banalitäten und Klischees erdulden, uns wundern über das, was der Carlsen Verlag, eines der deutschen Schwergewichte im Comicgeschäft, und seine Redakteurin Sabine Witkowski, eine der besten Kennerinnen auf europäischem Terrain, als geeignete Lektüre für Frauen ansah. Doch nun erscheint in der Serie „Graphic Novels für Frauen“, die gottseidank auch nicht mehr eigens als solche ausgewiesen wird, der Comic „Wie ein leeres Blatt“, geschrieben von Boulet (im wahren Leben Gilles Roussel) und gezeichnet von Pénélope Bagieu.
Also wieder ein Comic, der von einem Mann erdacht ist, aber von Carlsen für Frauen angekauft worden ist. Doch diesmal ist das Ergebnis alles andere als peinlich. Boulet hat eine Handlung erdacht, die zum Miträtseln einlädt: Eines späten Nachmittags findet sich eine junge Frau mitenm in Paris auf einer Bank am Straßenrand wieder und weiß nicht, wie sie dahin gekommen ist und wer sie ist. Ansonsten weiß sie viel: Sie kennt die populären Filme, weiß um die Stars der Boulevardpressse, hat alle Kulturtechniken einer Großstädterin parat, doch sobald es privat wird, fehlt jede Erinnerung. Keine Freunde, keine Familie, keine Wohnung, kein Job.
Das alles will sie zurück. Und so beginnt mit dem Inhalt ihrer Handtasche die Rekonstruktion eines Lebens (eine französische Leseprobe bietet das ganze erste Kapitel:https://www.editions-delcourt.fr/catalogue/bd/la_page_blanche). Bald steht sie in einer Wohnung. Doch ist es überhaupt ihre? Bevor sie eintritt, malt sich die junge Frau, die alsbald den Namen Eloise für sich akzeptieren wird, aus, was sie hinter der Tür erwarten könnte. Drei Seiten verwendet Pénélope Bagieu darauf, um in elf Panels elf verschiedenen Visionen zu zeigen – von der Leiche über den untreuen Ehemann bis zur Doppelgängerin. Ihjre Phantasie wird Eloise immer wieder die tollsten Streiche spielen, und wir dürfen bei mancher Sequenz des Comics erst einmal rätseln, ob es jetzt bloß wieder Vorstellungskraft oder Realität ist, was wir sehen. Aber bald merkt man, dass hier ein Dutzendleben wiederentdeckt wird. Und das ist erst recht spannend.
Allerdings opfert Boulet als Szenarist etliche Dinge, in denen man Hinweise auf das frühere Leben der jungen Frau vermuten könnte. Sie kann etwa virtuos im Kopf rechnen, hat eine kleine Wunde am Hals, findet tausend Dinge in der Wohnung, mit denen sie mangels Übung gar nichts anfangen kann – doch das alles spielt am Schluss gar keine Rolle. Es ist, als hätte Boulet sich vorgenommen, eine Geschichte rund um ein Dutzend McGuffins zu schreiben.
Was sich aber hinter all den Ablenkungen in „Wie ein leeres Blatt“ entfaltet – Enttäuschung von Erwartungen, banale Überraschungen, simple Auflösungen –, das entspricht genau dem Erkenntnisprozess von Eloise, so dass wir als Leser spüren, wie sie empfindet. Die Hilflosigkeit der Medizin angesichts ihrer Amnesie etwa. Hinter dem Leben, das will dieser Comic klarmachen, steckt nichts außer dem, was wir aus ich machen. Und Eloise ist da am Ende ihrer Geschichte auf einem guten Weg, obwohl sie nicht das findet, mit dem sie gerechnet hat.
Und auch graphisch findet man nicht das, was man erwarten könnte. Das Kleinmädchenschema, das Pénélope Bagieu zu bedienen scheint, erweist sich als höchst ausgefuchstes Spiel mit wechselnden Zeichenstilen und Seitenarchitekturen, die ihrerseits dazu beitragen, dass sich die Überraschungen (und Wiederholungen) auf anderen Ebenen abspielen, als vermutet. Dazu hat der bewährte Uli Pröfrock, der sich mehr und mehr zum besten Übersetzer von französischen Comics entwickelt, einen unaufdringlichen eigenen Ton für Eloise gefunden, der dem gelegentlichen Jargon des Originals deutsche Entsprechungen an die Seite stellt, die nichts Gesuchtes haben. So werde ich als Mann gern die Graphic Novels für Frauen weiterlesen. Und ich bin arrogant genug anzunehmen, dass es sich beim weiblichen Publikum genauso verhält.