Selten genug werden Comics sofort zu Klassikern, und noch seltener passiert das bei längst klassischen Serie, die von neuen Zeichnern fortgeführt werden. „Spirou“, 1938 von Rob-Vel (Robert Velter) erfunden und somit in diesem Jahr 75 Jahre alt, wurde zum Klassiker unter der Feder von André Franquin, der die Serie 1946 übernahm. Keine andere französischsprachige Comicreihe mit der Ausnahme von „Tim und Struppi“ kommt seinen Arbeiten an Ruhm gleich. Seit Franquin sich 1969 entschied, die Serie in andere Hände zu legen, versuchten sich ein halbes Dutzend Nachfolger daran, aber nur einer der mehr als drei Dutzend seitdem erschienenen Bände wurde selbst zur Legende: Emile Bravos „Porträt eines Helden als junger Tor“ von 2008.
Es war ein Geniestreich des 1964 geborenen Franzosen, den Hotelpagen Spirou just in jene Zeit zurückzuversetzen, als die Figur gerade das Licht der Welkt erblickt hatte – ins Jahr 1939. Bravo nahm damit eine Idee des 1990 verstorbenen Zeichners Yves Chaland auf, der die Geschichte Spirous unter der deutschen Besatzung Belgiens erzählen wollte, aber vom Dupuis Verlag nie den Zuschlag dafür bekommen hatte. Bravo ging es etwas vorsichtiger an und siedelte das Geschehen seines Comics vor dem Einmarsch der Deutschen an. Davon profitierten später Yann und Olivier Schwartz, die nach dem Erfolg von Bravos Band tatsächlich ein Spirou-Abenteuer erzählen durften, das den Pagen unter die Nazi-Besatzer versetzte.
Im „Porträt eines Helden als junger Tor“ tauchen aber auch schon genug Nazis auf, denn das Brüsseler Hotel Moustique, in dem Spirou angestellt ist, wird zum Ort von Geheimverhandlungen zwischen Deutschen und Polen über territoriale Zugeständnisse seitens der Polen. Natürlich sollen sie über den Tisch gezogen werden, zumal parallel schon die Verhandlungen mit der Sowjetunion über den späteren Hitler-Stalin-Pakt laufen. Am Ende des Bandes ist der Zweite Weltkrieg entfacht, und Spirous Freund Fantasio wird zur belgischen Armee eingezogen.
Es ist faszinierend, wie Bravo die Zeitgeschichte in die imaginäre Welt der Abenteuer von Spirou versetzt (eine Leseprobe findet sich hier: https://www.carlsen.de/sites/default/files/produkt/leseprobe/LP-9783551776969.pdf). Sein Held erscheint als eine zwiespältige Figur, doch auf höchst subtile Weise wird in diesem Band alles schon angelegt, was Spirous Charakter später prägen soll. Bravo hat Franquins Klassiker genau studiert, und das war die Voraussetzung dafür, einen eigenen zu schaffen.
In Frankreich war der Erfolg des Bandes 2008 riesig, und in Deutschland verkaufte sich die Übersetzung ein Jahr später auch sehr gut. Grund dafür ist vor allem die Zeichenkunst Bravos, der das Zeitkolorit der späten dreißiger Jahre grandios einfängt, ohne aber den noch unbeholfenen Comicstil der frühen „Spirou“-Jahre zu kopieren.
Und nun kann man zum 75. Geburtstag der Serie einen hochspannenden Einblick in die Werkstatt Bravos tun, denn der Carlsen Verlag hat aus Frankreich eine aufwendige Doppelausgabe übernommen, in dem das eigentliche Album von einem zweiten Band begleitet wird, in dem sämtliche vorgezeichneten Seiten zum „Porträt eines Helden als junger Tor“ versammelt sind. Man lernt nicht viel über die Genese der vertrackten Handlung, denn es sind Entwürfe, die in der Seitenarchitektur schon genau dem entsprechen, was später im finalen Druckbild erscheinen sollte, aber was in diesem Zusatzband deutlich wird, ist die atemraubende Leichtigkeit des Bravoschen Strichs, der noch viel mehr Dynamik enthält als in der später getuschten Version – in gewisser Weise ist Bravo hier so nah an Franquin wie sonst nie.
Das muss man sehen, auch wenn das Ganze mit fast fünfzig Euro ein teurer Spaß ist. Aber beide Bände stecken in einem sehr schönen Schuber, und die Druckqualität ist hervorragend, so dass die Blaustiftvorzeichnungen zum Entwurf einen Einblick ins Handwerk des Zeichners gestatten, wie man ihn sonst nie bekommt – vor allem nicht bei noch aktiven Comicstars, die sich schwer damit tun, der Perfektion ihrer fertigen Alben zu viel vom Zauber zu nehmen, indem sie die Umstände von deren Entstehen offenlegen.
So ist der Spirou-Jubiläumsschuber nicht nur ein Sammlerstück, sondern vor allem eine Augenschule, die kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Dass die originale Handschrift Bravos in den Entwürfen durch eine deutsche Version ersetzt wurde, ist der einzige Schönheitsfehler. Da man ja eh beide Bände nebeneinander liest, hätte man da gut den französischen Text belassen können. Andererseits hat der Letterer Hartmut Klotzbücher hervorragende Arbeit in der Annäherung an Bravos Handschrift abgelegt. Also hält sich das Leid in Grenzen, und gegen die Freuden dieser Edition fällt es gar nicht mehr entscheidend ins Gewicht.