Der größte Wurf des 1953 geborenen englischen Szenaristen Alan Moore ist und bleibt „Watchmen“, jene Superheldenserie von 1986, die wie eine Essenz des Comicerzählens daherkommt, als eine Geschichte, die höchste literarische Ansprüche erfüllt und natürlich mittlerweile auch verfilmt und fortgesetzt wurde – beides ohne Mitwirkung und sogar gegen den Widerstand von Alan Moore. Der bald sechzigjährige Herr ist bekennender Magier und weiß um den Zauber seiner Phantasie. Vor allem aber hat er eine der schlechtesten Comicverfilmungen erdulden müssen: die seiner Serie „The League of Extraordinary Gentlemen“.
Das war 2003, bedeutete den Todesstoß für die Karriere von Sean Connery und bekräftigte Moore in seiner Ablehnung aller Adaptionen seiner Stoffe (auch wenn die „Watchmen“-Verfilmung ebenso sehenswert ist wie die gerade abgeschlossene sechsunddreißigteilige Comicfortsetzung „Before Watchmen“ lesenswert). Er selbst aber arbeitete munter weiter am Universum der „League of Extraordinary Gentlemen“, die er gemeinsam mit dem englischen Zeichner Kevin O’Neill 1999 ins Leben gerufen hatte. Der vierte Teil, „Century“ betitelt, bestand aus einer Trilogie, in der das verzweifelte Wirken der titelgebenden Geheimagententruppe bis ins Jahr 2009 verfolgt wurde. Rekrutiert hatte Moore sie aus der Abenteuerliteratur des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Am Ende blieben nur noch zwei Frauen übrig: Mina Murray (entnommen aus Bram Stokers „Dracula“) und Orlando (nach Virginia Woolf, hier in seiner weiblichen Daseinsform). Die Männer sind alle tot.
Auch Kapitän Nemo (nach Jules Verne), der bei Moore schon früh im zwanzigsten Jahrhundert das Zeitliche gesegnet hat. Doch nun ist ein neuer Band des Teams Moore/O’Neill erschienen, der „Nemo“ heißt und erstaunlicherweise nicht als Spin-off der “League of Extraordinary Gentlemen“ ausgewiesen ist. Allerdings verweist er unmittelbar aufs Geschehen der Serie, nur dass nun im Kommandostand der „Nautilus“ eine Frau steht: Janni, die Tochter des verblichenen Kapitän Nemo.
„Heart of Ice“ heißt der kürzlich in Amerika bei Top Shelf erschienene Band (Leseprobe unter https://www.topshelfcomix.com/catalog/nemo-heart-of-ice/820), und dieses Eisherz meint sowohl die Antarktis als natürlich auch die kühle indische Schönheit Janni selbst, die sich im Band einführt mit einem Überfall auf den Pressemagnaten Charles Foster Kane (aus Orson Welles’ Film „Citizen Kane“), der gerade – wir schreiben das Jahr 1925 – eine geheimnisvolle Potentatin aus Afrika beherbergt, die Königin von Kor, die sich gleichfalls als wenig zimperlich erweist – von der Figur dürfen wir wohl noch einiges erwarten.
Starke Frauen scheinen Moore derzeit zu faszinieren, auch wenn Miss Janni im Lauf des Buchs in Begleitung einer überwiegend männlichen Truppe gen Südpol zieht, wo es einen nächsten Fischzug zu machen gibt. Leider hat der mächtige Kane ihr ein Todeskommando nachgeschickt, und so spielt sich in den Weiten des ewigen Eises ein Kampf ab, der die wenigsten Teilnehmer ungeschoren lassen wird.
Aber wie bei Moore und O’Neill üblich, beschränkt sich der Konflikt nicht auf menschliche Kombattanten, sondern bezieht allerlei mythologisch und literarisch Ungeheures mit ein. Edgar Allen Poe und H.P. Lovecraft sind diesmal zwei wichtige Gewährsleute, in die antarktischen „Mountains of Madness“ des Letzteren führt das große Finale des Comics, das Monster bietet, von denen selbst der amerikanische Horrormeister nicht geträumt haben dürfte.
Wie immer bei Moore gibt es jedoch auch eine politische Agenda, und diesmal lässt er der Brite seinen antiamerikanischen Anwandlungen freien Lauf. Das von Kane bezahlte Killerkommando gleicht nur allzu sehr den Missionen, die im Kampf gegen den Terror rund um die Welt auf Menschenjagd geschickt werden, und mit Will Swyfte aus Mark Chadbournes Abenteuerserie „The Sword of Albion“ hat Moore auch noch einen englischen Helden der zeitgenössischen Literatur zum Schurken im Dienste der Amerikaner gemacht.
Konfus geht es zu in der Antarktis, die Ereignisse überschlagen sich, doch die karikaturesk-dekorative Graphik von Kevin O’Neill ist mitreißend wie immer, und die kräftigen Farben, die Ben Dimagmaliw der Sache gibt, lassen die südlichen Eisgefilde wie in ständig wechselndes Polarlicht schimmern. Dass die Vielzahl der literarischen und filmischen Anspielungen wieder eines regelrechten Dechiffriersyndikats bedarf, ist klar. Aber man liest das Ganze auch als großen Spaß, wenn man nicht alles zu deuten weiß (und wer außer Alan Moore selbst wüsste das schon).