Eines vorweg: Ich gebe bei Suhrkamp eine Comicreihe heraus. Darin erschienen bislang Adaptionen von literarischen Vorlagen, und bald wird mit Volker Reiches „Kiesgrubennacht“ auch der erste Originalstoff publiziert. Als Nicolas Mahler 2011 mit „Alte Meister“ nach Thomas Bernhard den Auftakt machte, was das nach Judith Schalanskys Erfolgsroman „Der Hals der Giraffe“ der am meisten rezensierte Titel des Verlags. Klar, mit einem Comic bei Suhrkamp sah man diese Erzählform in der Hochkultur angekommen.
Dass es längst vorher Comics gab, die das waren, aber eben noch nicht das Gütesiegel dieses Verlags trugen, spielte keine Rolle. Die Symbolkraft einer Institution wie Suhrkamp ist eben größer. Geht es noch besser? Ja, denn im Insel-Verlag, einer Suhrkamp-Tochter, erscheint die „Insel-Bücherei“, eine kleine bibliophile Buchreihe, die 1912 begründet wurde und – man muss es mit dem hässlichen Wort ausdrücken – Kultstatus genießt. Was Rang und Namen in der deutschen Literatur hat, ist dort publiziert worden. Die Aufnahme ins elitäre Programm der Reihe sichert sofort den Klassikerstatus.
Nun erscheinen dort Nicolas Mahlers „Gedichte“, und ich muss gleich sagen, dass ich damit nichts zu tun hatte. Im Verlagshaus hatte man sich für „Alte Meister“ begeistert, und plötzlich wurden auch Mahlers sonstige Bücher beliebte Lektüre von Suhrkamp-Mitarbeitern. Auch von Raimund Fellinger, der grauen Eminenz des Hauses. Er stieß auf den 2007 in Kanada publizierten Mahler-Band „Poèmes“ und wählte ihn für die Insel-Bücherei aus.
In seinem Nachwort warnt Fellinger davor, in der Aufnahme eines Comiczeichners in die illustre Reihe eine Revolution zu sehen. Recht hat er. Zumal es sich bei Mahlers „Gedichten“ gar nicht um Comics handelt. So etwas muss man immer noch erklären. Comics sind eine Erzählform, die aus Bildsequenzen bestehen. Das tun Mahlers Gedichte auch, allerdings sind es jeweils nur zwei Bilder pro Poem, und sie erzählen nicht, sondern schaffen durch bloßes Nebeneinander jenen Kontrast zwischen Erwartung und Resultat, den Jean Paul als Grundvoraussetzung für Humor bezeichnet. Das würde jeder Kenner des Metiers als Cartoon bezeichnen; im Deutschen gibt es dafür nur das dumme Wort „Witzzeichnung“.
Nun könnte man sagen, dass die Gedichte in ihrer Abfolge eine fortlaufende Erzählung bilden, denn alle zeigen auf ihren zwei Bildern jeweils dasselbe typische Mahlermännchen mit schwarzer Hose, weißem Hemd und langer Nase. Aber gerade weil es sich dabei um einen Archetyp des Mahlerschen Schaffens handelt, kann man diese Figur nicht individualisieren. Jedes Gedicht steht für sich, auch wenn alle demselben Schema folgen: Ein einzelner gezeichneter Begriff wird durch sein Gegenstück ergänzt, zum Beispiel „Bild“ und „Ton“. Oder „Jugend“ und „Alter“. Reimen im klassischen Sinne tut sich nichts in diesen Gedichten, es sind semantische Reime, die Mahler schafft und bebildert. Wenn man den ersten Begriff hört und das Verfahren kennt, ahnt man den Titel der Fortsetzung – wie man auch bei einem gereimten Gedicht etwas über den Fortgang weiß, wenn man eine erste Zeile gelesen hat.
Die feste Klientel der Insel-Bücherei dürfte trotzdem einigermaßen irritiert vor diesem Band stehen. Das sollen Gedichte sein? Sie sind es in einem weiteren Sinne nicht nur des semantischen Reims wegen, sondern auch der graphischen Variation halber (Leseprobe unter https://www.bic-media.com/dmrs/widget.do?bgcolor=1750E2&arrowTeaser=yes&clickTeaser=no&buttonOrder=book&metadata=no&download=no&layout=singlepage&layoutPopUp=doublepage&showTitle=no&showTitleInPopUp=yes&buyButton=yes&buyUrl=https://www.suhrkamp.de/warenkorb/additem/buch/19385/&showTAFButton=yes&socialSelfBackLink=yes&isbn=9783458193852). Mahler zeichnet zu den Begriffspaaren Konstellationen, die sein Männchen und ein Objekt zusammenbringen. Der Witz besteht dann bei Betrachten des ersten Bildes in der Vorstellung, die man sich vom zweiten macht. Erst wenn man die Seite umblättert, weiß man, ob man richtig lag, so wie sonst bei Gedichten auch erst nach dem zweiten Reimwort klar ist, ob die eigene Erwartung stimmte.
Es ist ganz gewiss die gewöhnungsbedürftigste Arbeit des ohnehin nicht so leicht, wie man angesichts seiner Zeichn ungen denken sollte, zugänglichen Nicolas Mahler. So gesehen wagt die Insel-Bücherei etwas – es ist ja kein Zufall, dass die „Poèmes“ bei den zahlreiche deutschen Verlegern von Mahlers Werken sechs Jahre lang unberücksichtigt blieben. Und dass ganz selbstverständlich dieses offensichtliche Lieblingsprojekt von Raimund Fellinger auch erschienen ist, dass ist ein besserer Beweis dafür, dass Comiczeichner Hochkultur schaffen können, als das bloße Faktum, dass sie in der Insel-Bücherei erscheinen. Und eines Tages werden sie es auch mit einem echten Comic tun.