Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Moor ist mehr

Oliver Grajewski hat eine höchst unwahrscheinliches Meisterstück geschafft: einen deutschen Comic von subtilem Horror und melancholischer Romantik. Und es passt.

Bisweilen staune ich, was man alles übersieht. Nicht ich allein, sondern auch der Comicfachhandel, die Rezensenten und nicht zuletzt ein Verlag, der ein ehrgeiziges und hochinteressantes Buch nicht massiv durchzusetzen versucht. Aber das sollen keine Vorwürfe sein, denn ich hätte ja auch selbst den Weg von Oliver Grajewski verfolgen können, nachdem er mir vor vier Jahren mit seinem Comic im gemeinsam mit Kathrin Röggla konzipierten „Tokio, Rückwärtstagebuch“ so positiv aufgefallen war. Danach aber kam nichts mehr – dachte ich.

„Der Tag im Moor“ erklärt die lange Pause, denn das Buch hat mehr als dreihundert Seiten, und die sind wieder so überreich mit Bleistift und Tusche ausgefüllt, wie man es von Grajewski gewohnt war.  Wobei dieser Comic (der der Verlag Breitkopf Editionen wohltuenderweise auch so nennt und nicht erst mit der Rede von „Graphic Novel“ aufzutrumpfen versucht) gar nicht so lange in Arbeit war, wie es mir schein, der ich ihn erst vor vier Wochen im Berliner Geschäft „Modern Graphics“ entdeckte. Erscheinen ist Grajewskis Opus magnum nämlich schon 2012.

Nun bleibt ein gutes Buch ein gutes Buch auch noch im Folgejahr seiner Publikation und viele weitere Jahre. Darum ist es nie zu spät, „Der Tag im Moor“ zu lesen. Und mehrfach sollte man es auch noch tun, den die Handlung ist komplex, und viele kleine Hinweise auf ihren Verlauf werden bei der ersten Lektüre nicht so deutlich wie bei einem abermaligen Durchgang. Das hat auch mit Grajewskis schon erwähnten deep graphics zu tun, die in stetem Stilwechsel alles aus Feder und Bleistiftmine herauszuholen versuchen – einen Eindruck davon bekommt man schon beim, Blick auf das Cover: https://www.skalien.de/html/moor_cover_text.html.

Grajewski ist ein Fan des klassischen Schwarzweiß, gelegentlich aber arbeitet er in „Der Tag im Moor“ auch durch Montage Fotos oder Computerbilder mit ein, auch die jedoch niemals farbig.  Dieser Reichtum an Bildquellen geht einher mit einem weitausholenden Handlungsverlauf, der zwar tatsächlich im Zentrum nur einen Tag hat, den der Protagonist Oliver, ein Alter Ego des Zeichners, in der schleswig-holsteinischen Heimat seiner Kindheit verbringt, aber das Geschehen geht zurück bis in die Kindheit in den achtziger Jahren, und aus dem Provinzleben am Moor in Norddeutschland entsteht die Option für einen alternatven Gesellschaftsentwurf.

Der ist allerdings erzwungen durch Mutationen, an denen einige der dort wohnenden Menschen durch die atomare Strahlung gleich dreier in der Nähe errichteter Atomkraftwerke leiden. Dadurch entwickeln sie besondere Fähigkeiten, schließen sich aber zugleich gegen die restliche Gesellschaft ab. Grajewski schafft ein an den „X-Men“ orientiertes Handlungsmuster, ohne jedoch jemals die Assoziation zum Superheldengenre nachezulegen. Die Mischung aus Romantik und Horror, die er grandios schafft, wirkt urdeutsch (auch in der etwas gezwungenen Öko-Apokalyptik).

Mehr als eine Reise in eine fremde geheimnisvolle Welt , die nur ein paar Seitenwege vom Elternhaus entfernt liegt, ist „Der Tag im Moor“ eine Reise ins Ich, eine Selbstbefragung zu dem, was man als Kind oder Jugendlicher von der Welt wahrnimmt und bewahrt. In der Rückschau runden sich seltsame Erlebnisse zu einem schlüssigem Bild, und Oliver erwirbt den Schlüssel zum Zugang beider Welten: seiner inneren und der verborgenen der Mutanten.

Graphisch ist „Der Tag im Moor“ noch mehr Tour de force als erzählerisch. Von extremer Nahsicht zu Totalen, von nahezu japanisch reduzierter Umgebung bis zum exzessiven Liniengewirr, von nur skizzierter bis zu akribisch ausgearbeiteter realistischer Bilgestaltung ist alles dabei. Das ist keine Talentprobe mehr, das ist ein Meisterstück. Nur müssen das die Leser erst einmal merken.