Natürlich ist es Zufall, dass der Band „Auf den Spuren Rogers“ hierzulande nur wenige Monate nach Jacques Tardis eindrucksvollem Comic „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB“ herauskommt, der eine ähnliche Entstehungsgeschichte hat. Bei Tardi, dem wichtigsten lebenden französischen Comiczeichner, war es das Protokoll des Vaters über seine jahrelange Inhaftierung in einem deutschen Stammlager, das den Comic anregte. Allerdings hatte René Tardi dieses Protokoll erst nachträglich angefertigt. Roger Brelet dagegen führte während des Kriegs und der Gefangenschaft Tagebuch, und auf dieser Grundlage hat sein Enkel Florent Silloray seinen Comic über das Schicksal des Großvaters gezeichnet.
In Frankreich kam dieser Band sogar früher, nämlich bereits 2011, heraus als der Tardis, aber die Aufmerksamkeit gehörte dann doch ganz dem Werk des siebenundsechzigjährigen Altmeisters, zumal der viel jüngere, erst 1971 in Nantes geborene Silloray bislang vor allem als Illustrator von Kinderbüchern in Erscheinung getreten war. Diese Herkunft merkt man „Auf den Spuren Rogers“ manchmal an, und das ist positiv gemeint, denn Silloray zeichnet sehr häufig textfreie Panels, unter denen dann Zitate aus Roger Brelets Tagebuch stehen. In den ganz in Sepia gehaltenen Szenen aus dem Zweiten Weltkrieg gibt es nur selten Sprechblasen (Leseprobe unter https://www.avant-verlag.de/comic/auf_den_spuren_rogers), währen die Intermezzi, in denen Silloray von seiner Recherche für den Band berichtet, bunt gehalten sind und den Text immer in die Panels integrieren.
Dem Comic liegt also ein ästhetisch-narratives Konzept zugrunde, dass die authentischen Aufzeichnungen des Großvaters nicht unmittelbar mit den siebzig Jahren danach entstandenen Bildern in eins setzen will. Sillorays eigene Erlebnisse dagegen sind nun einmal die eines Comicerzählers und deshalb auch in der entsprechend klassischen Form gehalten. Und bisweilen sind seine Beobachtungen bei den Reisen auf den Spuren des Großvaters genauso spannend wie die Kriegsbegebenheiten.
Als Silloray im Dokumentations- und Informationszentrum Torgau das Tagebuch von Roger Brelet vorweist, bestätigt man ihm die Seltenheit einer solchen zeitgenössischen Quelle. Wobei man sagen muss, dass die Aufzeichnungen schon Anfang 1941 abbrechen. Da hatte Brelet noch mehr als vier Jahre Gefangenschaft vor sich (warum Silloray einmal von „40 Monaten in Gefangenschaft“ spricht, obwohl sein Großvater schon im Juni 1940 in deutsche Hände fiel und erst durch amerikanischen Truppen in Sachsen, also im April 1945, befreit wurde, ist rätselhaft), aber das Schreibheft, das Rogers Verlobte ihm beim Ausrücken an die Front mitgegeben hatte, war voll. Offenbar hat er im Stalag kein weiteres auftreiben können.
Wie bei Tardi sind auch hier zwei Dinge von größtem Interesse: der selten dokumentierte Alltag der französischen Kriegsgefangenen in Deutschland, der zwar nicht unmittelbar lebensbedrohlich war, aber hart genug, und die Auseinandersetzung ihrer Nachkommen mit diesem Erinnerungserbe. Tardi zeichnet sich selbst immer wieder in die Bilder ein: als naives Kind, das dem gefangenen Vater Fragen zu dessen Situation stellt. Silloray geht einen weniger gewagten Weg und trennt die Passagen aus der Kriegszeit konsequent von der eigenen Person. Aber beide Zeichner kommen nicht darum herum, sich selbst als unmittelbar Beteiligte zu zeigen und also im Comic auftreten zu lassen.
Denn beide haben von ihrem Vater und Großvater zu deren Lebzeiten keine Antworten auf die drängenden eigenen Fragen bekommen. Die kamen erst später, mit den jeweiligen Aufzeichnungen. Wie solche Funde die eigene Arbeit beflügeln, das zeigen beide Comics. Der von Tardi ist ein Meisterwerk unter den vielen Großtaten dieses Zeichners, der von Silloray ein hoch achtbares Debüt, dessen Lektüre nur empfohlen werden kann. Dass in der deutschen Übersetzung des Avant Verlags, zwei Orts- und Zeitbestimmungen verfälscht werden, ist bedauerlich, mindert die Begeisterung für diese Entdeckung aber nicht im Geringsten.