Ich gebe gern zu, dass ich diesen Comic eigentlich nach etwa vierzig Seiten (er hat satte 240) verärgert beiseite legen wollte. Denn mir schien, als hätte sich der junge englische Zeichner Stephen Collins einfach eine Mischung aus Chris Ware, Shaun Tan und Craig Thompson einfallen lassen, ohne aber eigene Elemente beizugeben. Ein Best of des zeitgenössischen englischsprachigen Comics als, denn Ware hat mit „Jimmy Corrigan“ einen gesellschaftsunfähigen Sonderling geschaffen, wie es auch Dave ist, der bewusst nachnamenlos gelassene Protagonist von Collins‘ Comic. Shaun Tan hat ihm mit „The Arrival“ das Muster für eine phantastische Schwarzweiß-Welt geboten und Craig Thompson in „Blankets“ den Erzählton vorgegeben. So epigonal zumindest sah es anfangs aus.
Doch irgendwie lege ich Comics nicht einfach beiseite, zumal sich der konkrete Band trotz seinem Umfang schnell liest. Und irgendwann hatte Collins mich am Haken. Dann nämlich, als die Geschichte endlich losgeht, die der Titel verspricht: „The Gigantic Beard That Was Evil“ (Der böse Riesenbart). Und prompt wird es originell.
Der zähe Anfang führt den Inselstaat Here ein – und man kann darin leicht ein Porträt Großbritanniens sehen, denn die Bewohner haben panische Angst, vor dem Chaos was jenseits des Meeres in der nicht näher spezifizierten Landmasse There herrschen soll. Aber auch das Meer selbst stellt für die Bewohner von Here eine Bedrohung da, so dass Leute wie Dave, die unmittelbar an der Steilküste wohnen, schon als Außenseiter gelten. Dave arbeitet bei einem großen Unternehmen, das von seinen Angestellten tadelloses Auftreten verlangt – wie die ganze Gesellschaft von Here.
Dann beginnt aus unerfindlichen Gründen der Bart des zuvor stets glattrasierten Dave zu wachsen. In atemraubenden Tempo. Er wuchert auf den Schreibtisch, durchs Zimmer, zum Fenster heraus, droht, ganz Here unter sich zu begraben. Alle Frisöre des Landes werden abgestellt, um dieses Wachstum zu bekämpfen, sie kommen jedoch dem Phänomen nicht bei, auch nicht, als zusätzlich Hundetrimmer und Gärtner rekrutiert werden. Da diese Gruppen nun rund um die Uhr mit Daves Bartwuchs beschäftigt sind, verwildern aber auch die übrigen Bewohner von Here, ihre Haustiere und ihre Ziergärten.
Mehr soll nicht erzählt sein, denn was für Entwicklungen die Geschichte nimmt, ist derart einfallsreich (und brillant mit dem Schmachtfetzen „Eternal Flame“ der Frauenpopgruppe The Bangles, der Lieblingsmusik von Dave, verknüpft), dass ich niemandem das Vergnügen, dass ich selbst erlebt habe, schmälern möchte. Wer etwas sehen will, muss auf die Seite von Collins: https://www.stephencollinsillustration.com/, dort gibt es in der Randspalte links etliche Doppelseiten zu sehen Was als recht banale Parodie einer zu gutbürgerlichen Gesellschaft beginnt, wird zur subtilen Parabel auf soziale Krisen. Und mit einer Figur wie dem Wissenschaftler Darren Black, der sein Glück mit Daves Unglück macht, ist Collins ein allegorisches Kabinettstück geglückt.
Dave ist übrigens in seiner Freizeit Zeichner, und ich glaube, dass es diese überdeutliche Identifikation von Collins mit seiner Hauptfigur war, die mich störte. Aber selbst das wird am Schluss zu einem hinreißenden Erzählbogen gerundet, und wie die Teilung der Außenwelt durch die Fenstersparren von Daves großem Panoramafenster zum Raster seiner Zeichnerkunst wird, das ist gleichfalls extrem klug. Wie überhaupt im Fortlauf der Geschichte immer konsequenter mit Mitteln der Seitenarchitektur gearbeitet wird. Und so habe ich das Buch am Ende nicht verärgert, sondern als Meisterwerk beiseite gelegt. Im kommenden Frühjahr erscheint es auf Deutsch bei Atrium. Bitte schon mal vormerken, wenn man nicht gleich das bei Jonathan Cape erschienene englische Original lesen will.