Fangen wir mit dem Unangenehmen an: Dieser Band taugt nichts, gar nichts. Man könnte meinen, damit wäre alles über die Comicbiographie „Willy Brandt“ gesagt. Ist es aber nicht. Zunächst muss begründet werden, wie ich zu diesem Urteil komme.
Heiner Lünstedt ist der Verfasser. In seinem Fall liegt das Scheitern an der offenkundigen Unfähigkeit, der Chronologie Herr zu werden. Dabei ist es die naheliegendste Lösung, einfach dem Zeitstrahl zu folgen, wenn es um das Leben eines Menschen geht. Aber nehmen wir nur die Seiten 60 und 61 des Comics: Wir schreiben das Jahr 1959, Brandt ist Regierender Bürgermeister von Berlin, der Kalte Krieg geht seinem Höhepunkt entgegen. Zum 1. Mai spricht der Sozialdemokrat Brandt und wagt die Prognose, dass das Brandenburger Tod irgendwann nicht mehr an der Grenze liegen werde. Auf der Folgeseite sehen wir Brandt bei einer winterlichen New Yorker Konfettiparade zu seinen Ehren, und der Textkasten behauptet, es handelte sich um den Februar 1955. Das ist nun einfach ein dummer Fehler, den auch der Knesebeck Verlag hätte bemerken können, aber selbst das richtige Datum des Februars 1959 klärt nicht die Frage, warum Lünstedt hier überhaupt zurückspringt. Man hätte die Seiten problemlos vertauschen können.
Später, 1969, wird Brandt Bundeskanzler, und nach einem Bild seines Kabinetts lässt Lünstedt Brandt die „Bild-Zeitung“ lesen, in der über Beate Klarsfelds Ohrfeige für Kurt-Georg Kiesinger berichtet wird. Die ereignete sich aber schon im Jahr zuvor, doch Lünstedt erweckt den Eindruck, dadurch sei Brandt in seinem Koalitionswechsel von der CDU zur FDP bestätigt worden. Um zu verstehen, dass Brandt im März 1970 bei seinem Besuch in Erfurt von DDR-Bürgern gefeiert wurde, muss man die Geschichte schon kennen, denn das erste Panel der Reise spielt noch in Bonn auf dem Bahnhof und dann geht’s naht- und kommentarloslos auf den Erfurter Bahnhofsvorplatz. Erst nach all den Szenen wird die Erklärung dafür gegeben, was man sah. Dagegen wäre auch gar nichts zu sagen, wenn der Comic sonst nicht noch das banalste Ereignis mit Ort- und Zeitangabe einordnete.
Der Höhepunkt dieses narrativen Chaos betrifft jedoch den Mauerfall: Angeblich erhält Brandt am 10. November 1989 um 16.30 Uhr einen Anruf in seinem Heim am Rhein, durch den er davon erfährt, eine Seite später ist er aber am selben Tag um 15 Uhr schon in Berlin an der Mauer. Natürlich ist das erste Datum falsch, es muss „9. November 1989“ lauten. Unfassbar, dass so etwas durchrutscht. Und 16.30 Uhr ist auch falsch, denn die Pressekonferenz, auf der Günter Schabowski die Öffnung der Mauer mitteilte, endete am 9. November erst um 18.53 Uhr. Was und wie Lünstedt da recherchiert hat, will man gar nicht wissen.
Ingrid Sabisch ist mir vor einigen Jahren erstmals mit einem Comic über das Thema Magersucht aufgefallen. Was sie zur Porträtistin Willy Brandts qualifizieren soll, ist indes rätselhaft. Sie hat kein Auge für Ähnlichkeiten, Brandt sieht in späteren Jahren meistens aus wie der Schauspieler Hansjörg Felmy, selbst wenn es Fotovorlagen gibt, kann man Brandt kaum wiedererkennen (an Jay Leno, denkt man manchmal auch). Es hätte jemanden gebraucht, der ein Mindestmaß an karikaturesker Gabe besitzt – nicht um zu überzeichnen, sondern um zu erkennen, was die typischen Züge einer bekannten Persönlichkeit sind.
Gut gewählt ist die Farbgebung, die flächig wie bei Walter Trier daherkommt und damit gerade für die erste Hälfte der insgesamt knapp hundert Comicseiten den richtigen Ton trifft, denn die erzählt von den Jahren bis 1945 (Leseprobe: https://www.bilderundworte.de/de/catalog/willy-brandt-sein-leben-als-comic/120945/detail). Dass Brandts Jugend- und Exilzeit so breiten Raum einnimmt, ist vernünftig, denn darüber ist weniger bekannt als über die spätere politische Karriere, und der private Brandt wird hier klarer – auch in seinen diversen Affären. Um dieses heikle Thema mogelt sich allerdings Lünstedt später etwas herum, obwohl sie entscheidend für den Rücktritt Brandts 1974 waren, weil das Amt des Bundeskanzlers unter den von vermuteten Guillaume-Enthüllungen zu Brandts Privatleben zu leiden drohte. Eine Seite, in der vom endgültigen Bruch zwischen Brandt und seiner Ehefrau Rut erzählt wird, schließt unmittelbar an den Rücktritt an, doch die Trennung fand erst 1979 statt, als Rut Brandt vom Verhältnis ihres Mannes zu Brigitte Seebacher erfuhr.
So ist die gezeichnete Brandt-Biographie ein rein impressionistischer Comic, der den Jahrestag des hundertsten Geburtstags am 18. Dezember 2013 nutzt. Schade, dass damit die Chance vertan wurde, eine wirklich interessante biographische Studie zu zeichnen, da hätte man mehr Willy Brandt wagen müssen. Das Gegenbeispiel zum Scheitern dieses Vorhabens ist Steffen Kvernelands „Munch“. Über diese Comicbiographie werde ich nächste Woche berichten.