Er hat dreidimensionale Comics gezeichnet, die mit 3D-Brille ausgeliefert wurden, einen Comic über den Louvre, dessen wichtigste Namen und Begriffe aus lauter Anagrammen von „le Musée du Louvre“ gebildet wurden, einen Comic, der eine wortlose Geschichte erzählte, die nur drei Sekunden umfasste, aber als mehr als achtzig Seiten langer Zoom dargeboten wurde, einen Comic, der Löcher in den Seiten hatte und etliche Comics, die sich um Julius Corontin Acquefacque drehen, einen Helden, dessen Name die phonetisch gesprochene Umkehrung von Kafka ist. Man sieht: Marc-Antoine Mathieu ist mit allen Wassern gewaschen und setzt seine Leser einem Sturzbach von Ideen aus.
Das ist auch in seinem neuesten Band so, in „La Décalage“ (Die Verschiebung). Der Titel ist natürlich Programm. Diesmal geht die Geschichte schon auf Seite 7 los, die ersten sechs Seiten bilden also den Abschluss des Bandes. Und nicht nur das: Die siebte Seite steht auch auf dem Umschlag des beim französischen Verlag Delcourt erschienenen Buchs. Das Titelbild ist also auch ins Innere versetzt, logischerweise vor die spät erscheinende Seite 1. Genauso wie Vorsatzpapiere oder Albumrückseite – alles verschoben. Nicht einmal eine Rückenbeschriftung hat dieser Hardcover-Band. Damit man überhaupt erkennt, womit man es zu tun hat, ist außen eine rote Papierbanderole angebracht, auf der Autor, Titel und Verlag genannt werden. Und auf der Rückseite der Banderole steht: „Achtung: Dieses Album umfasst Anomalien, die sämtlich gewollt sind und selbst das Thema bilden.“
Sonst hätten sich manche Leser wohl gewundert, wenn sie auf den Seiten 41 bis 46 ankommen und feststellen, dass der Großteil dieser Seiten herausgerissen ist. Aber die verbliebenen Reste sind noch lesbar. Besser sogar: Die Fragmente der Panels ergänzen sich mit den darunter zu sehenden zu kompletten Bildern und Dialogen. Auch hier ist also alles verschoben. Man kommt aus dem Staunen über Mathieus Einfallsreichtum und die handwerkliche Sorgfalt, mit der seine Effekte umgesetzt sind, nicht mehr heraus. Ein bisschen davon vermittelt sogar die Leseprobe des französischen Delcourt-Verlags: https://www.editions-delcourt.fr/catalogue/bd/julius_corentin_acquefacques_6_le_decalage.
Erkannt hätte man Mathieu als Verfasser sofort, auch wenn sein Name nicht auf dem Umschlag zu finden ist. Seine Schwarzweiß-Ästhetik und sein Zeichenstil sind unverkennbar (wobei es natürlich auch farbige Alben von ihm gibt, oder besser gesagt: solche, die die Farbe als inhaltliche Komponente thematisieren). Zudem tritt wieder einmal Julius Corontin Acquefacque auf. Gleich im ersten Bild des Albums, also dem ersten Panel von Seite 7, saust er mit einem Little-Nemo-Bett in die Tiefe des Raums. Fortan werden einige weitere Figuren – Nachbarn, Behördenvertreter und andere mehr – versuchen, ihn einzuholen. Dabei durchqueren sie höchst bizarre Welten.
Es hat leider wenig Sinn, mehr als das zu schildern, denn Mathieus Comics muss man buchstäblich erleben. Sie sind das Klügste, was der Comic hergibt, allerdings auch sehr artifiziell – Lesespaß verlangt hier große Anstrengungen. Auch beim Gebrauch der französischen Sprache, die in „La Décalage“ derart subtil eingesetzt wird, das mit einer Übersetzung des Bandes wohl ebenso wenig zu rechnen ist wie im Falle des unglaubliche Louvre-Comics „Les Sous-sols du Révolu“. Manche Sprechblase ist eben einfach nicht ins Deutsche zu retten, weil dabei der Witz auf der Strecke bleiben würde.
Aber auch wenn man nicht perfekt Französisch liest, ist dieser Comic ein optisches Fest, denn man versteht allemal genug, um das formale Raffinement dieses Wunderwerks zu würdigen. Deshalb am besten selbst nichts verschieben und den Band sofort bestellen! Oder wenigstens das halbe Dutzend Comics von Mathieu lesen, das übersetzbar war und auf Deutsch beim Reprodukt Verlag erhältlich ist.