Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Finger weg von der Meerjungfrau!

Mark Siegel und Sailor Twain tragen jeweils große Namen. Der amerikanische Zeichner erzählt in seinem nach der Hauptfigur Twain benannten Graphic-Novel-Debüt eine alte Geschichte in der Neuen Welt.

Allmählich kann man klarer absehen, was „Egmont Graphic Novel“, das neue Edelprogramm des Comicriesen Egmont (wo auch die Disney Comics und vor allem „Asterix“ verlegt werden), für eine Strategie. Das Zauberwort lautet offenbar Streuung: Wer vieles bringt, wird vielen etwas bieten. So hat man nach dem Start, den ein dem Haus eng verbundener Klassiker, der Spanier Miguelanxo Prado mit seinem Album „Ardalén“, noch unter altem Label machte, ein halbes Dutzend Comics herausgebracht – vom konventionellen französischen Band „Die Ignoranten“ von Étienne Davodeau über Weinbau bis zum neuen Album „Antoinette kehrt zurück“, der mit Manga-Elementen erzählten Geschichte einer Kreativdirektorin aus der Feder der deutschen Newcomerin Olivia Vieweg, die letztes Jahr mit ihrer modernisierten „Huck Finn“-Version den Durchbruch erlebte. Weiter auseinander kann man ästhetisch kaum liegen.

Dazwischen liegt die überraschendste Entscheidung im Egmont-Programm: die vierhundertseitige Graphic Novel „Sailor Twain oder Die Meerjungfrau im Hudson“ von dem in Europa nahezu unbekannten Amerikaner Mark Siegel. Bislang hatte sich der 1967 geborene Zeichner nicht als Autor betätigt, doch für diese Fantasygeschichte aus dem Jahr 1887 hat er selbst auch das Szenario geschrieben. Schon nach wenigen Seiten ist klar, was ihn am Stoff, der den Loreley-Mythos in den amerikanischen Hudson-Fluss verlegt, interessiert hat: große Gefühle, schöne Frauen, düstere Psychologie.

Das sind keine schlechten Eckpunkte für eine Geschichte, aber „Sailor Twain“ kommt nicht recht voran. Das liegt zunächst am Buchtitel, denn natürlich denkt man sofort an Mark Twain (zumal das Ganze auf einem Raddampfer spielt, der zwischen New York und Albany auf dem Hudson unterwegs ist), aber diese Assoziation wird im Comic selbst zurückgewiesen, wenn Kapitän Twain die Namensgleichheit entnervt kommentiert. Dabei ist gar nicht wenig abenteuerlich und unterhaltsam, was hier erzählt wird: Twain führt das Kommando auf einem Schiff mit einer exzentrischen Mannschaft, dessen Eigner zwei französische Brüder mit dem gleichfalls historisch eher überladenen Namen Lafayette sind.

Oder besser: waren, denn der ältere Bruder wird seit einer früheren Fahrt vermisst. Sehr bald eiß man, dass daran eine Meerjungfrau namens Süden nicht ganz unschuldig sein kann, die Twain eines Tages verletzt aus dem Hudson rettet und gesund pflegt, um sich dann in sie zu verlieben. Die Ernsthaftigkeit dieser Leidenschaft kontrastiert mit der amourösen Leichtfertigkeit des jüngeren Lafayette, doch schließlich erweist sich, dass beides dieselbe Ursache hat.

Meerjungfrauen sind immer schön und gefährlich, und natürlich spielt Andersens Märchen ebenso mit ins Buch wie Fouqués „Undine“. Das Problem aber ist, dass Mark Siegel (dem die Namensgleichheit zum „Superman“-Erfinder Jerry Siegel ähnlich zum Halse heraushängen dürfte wie seinem Twain die zum Schriftsteller) unbedingt tiefpoetisch sein will. Sein Retro-Schwarzweißstil (Egmont könnte sich mal um Leseproben bemühen, aber die amerikanische Seite https://sailortwain.com/ ist allemal aussagekräftig)trägt dazu ebenso bei wie die Passagen ohne Wort, die nur aus Blicken, Gesten und Stimmungen bestehen. Dagegen kommen kluge Aspekte der Geschichte, wie die Einleitung jedes der vier Hauptteile mit Zeitungsausschnitten, die schon einiges von dem vorbereiten, was gleich erzählt wird, nicht an – zumal die Übersetzungen der Zeitungsartikel zu wünschen übrig lassen, einer blieb gleich ganz im englischen Original.

Was man aber dem Band hoch anrechnen muss, ist, wie konsequent er seine mythische Handlung zu Ende führt und damit tatsächlich eine Literatur aufleben lässt, wie sie im neunzehnten Jahrhundert geschrieben wurde. Eine Literatur, die in der Romantik wurzelt und in Poe ihren prominentesten amerikanischen Exponenten hat, und von diesem Vorbild hat Siegel erkennbar viel gelernt. Nur zieht das Geschehen zu spät an, als dass man es dann noch als Entschuldigung für eher zähe 250 erste Seiten akzeptierte.

Und so dürfte das Wagnis, aus der amerikanischen Graphic-Novel-Szene mal anderes nach Deutschland zu bringen als die populären autobiographischen Stoffe, sich für Egmont wohl nicht rechnen. Sicher auch darum, weil der Mythos des Hudsons hier weniger bekannt ist als der des Mississippi. Dem hatte Mark Twain eben gut vorgearbeitet. „Sailor Twain“ muss diese Leistung selbst erbringen. Das ist zu viel, selbst für vierhundert Seiten.