Müsste man das Phänomen Nobrow auf einen Namen reduzieren, so lautete er Luke Pearson. Mit der Comicalben-Serie „Hilda“ des noch nicht dreißigjährigen Briten hat der 2008 von Sam Arthur und Alex Spiro in London gegründete Verlag einen internationalen Erfolg hervorgebracht, der auf der Grenze zwischen Kinder- und Erwachsenencomic so souverän balanciert, dass man es kaum glauben mag. Gerade ist der neueste, vierte Band erschienen: „Hilda and the Black Hound“. Doch als Verlagsname steht nun plötzlich auf dem Titel „Flying Eye Books“
Das ist ein eigener Imprint für Nobrows erfolgreichste Serie, doch ob ,man sich über diese Extrawurst für Pearson freuen kann? Schön, dass Pearson seinen Entdeckern nicht verlorengeht. Doch es stimmt mich schon misstrauisch, dass er, der bislang Stammgast war, nun nicht mehr mit einem Beitrag in der jüngsten Ausgabe des Magazins „Nobrow“ vertreten ist.
In dieser prachtvollen zweimal jährlich erscheinenden Anthologie versammelt der Verlag Nobrow alle seine Lieblinge. Sie müssen nicht Bestandteil des Programms sein – so viele Bücher kann Nobrow gar nicht drucken. Denn im neuesten Heft finden sich 46 Zeichner. Man denke an die Luzerner Anthologie „Ampel“, die an dieser Stelle letzte Woche gelobt wurde; da waren es nur drei. Zahl sagt nichts über Qualität aus, aber bei Nobrow arbeiten Menschen von Geschmack. Wenn die 46 Leute finden, die ihnen gefallen, dann darf man gespannt sein.
Meistens sind es Engländer, doch der Blick geht weit über den Kanal hinaus. ATAK aus Berlin etwa hat schon mal ein Titelbild für „Nobrow“ gezeichnet, ebenso wie der Katalane Max. Und in Nummer 9, die gerade herausgekommen ist, hat nicht nur mit Arne Bellstorf einer der interessantesten jungen deutschen Comiczeichner einen Auftrit, sondern mit Kirsten Rothbart aus Kassel auch eine selbst hierzulande noch unbekannte Künstlerin. „Nobrow“ entwickelt sich zum Schaufenster der Comiczukunft.
Wobei die Illustration einen genauso großen Raum in diesen Anthologien beanspruchen darf, denn das Heft ist zweigeteilt. Dreht man es um, stößt man auf ein neues Titelbild und kann von dieser Seite aus losblättern, ehe in der Mitte die beiden Segmente aufeinander treffen. Erst dort auch stößt man auf die Namen der Beteiligten. Das Cover enthält von beiden Seiten nicht mehr als den Titel und die Nummer der Publikation. Die Erscheinung soll überzeugen, nicht der etwaige Ruhm der Beteiligten.
Dementsprechend schön ist „Nobrow“ gestaltet. Wird man das Comic-Cover des neunten Heftes sehen, dürfte es schwierig sein, es liegenzulassen, so stimmungsvoll ist Jon McNaughts Nocturne mit zwei Gartenstatuetten geworden (Venus und Gartenzwerg friedlich-romantisch vereint). Die Comic-Hälfte darf übrigens immer noch einen leichten Vorrang gegenüber dem Illustrations-Part behaupten, denn das Impressum befindet sich auf der inneren Umschlagklappe dieser Sparte, und meist ist auch das Titelmotiv der Comic-Sektion etwas stärker.
Doch „Nobrow“ will bei aller elitären Auswahl so egalitär sein wie möglich. Deshalb hat jeder Künstler zum vorgegebenen Heftthema (diesmal lautet es „It’s Oh So Quiet“) jeweils den gleichen Platz zur Verfügung: vier Seiten für die Comics, eine Doppelseite für die Einzelillustrationen. Letztere sind deshalb nicht selten inhaltlich zweigeteilt, als Spiegelungen ihrer Aussagen, ein Prinzip, das sich seit dem sechsten Heft mit dem Sujet „Double“ großer Beliebtheit bei den Zeichnern erfreut.
Die Vorgabe eines Leitthemas und der fixierte Platz macht den Vergleich besonders interessant. Zudem hat es sich eingebürgert, dass die meisten Beteiligten stumme Geschichten erzählen, also ohne Sprechblasen (bei „It’s Oh So Quiet“ fürwahr keine Überraschung). Die individuellen Stile sind dafür umso unterschiedlicher; das belegt gerade der Vergleich der beiden diesmal aufgenommenen Deutschen. Während Rothbart in genau gleich großen Panels erzählt, die Rot und Blau als Zusatzfarben aufweisen und durch die ein wenig an Julie Doucet erinnernde Graphik ein ungestümes Punk-Gefühl vermitteln, orientiert sich Bellstorf mit seinen fugenlosen Seitenarchitekturen, die Bilder der unterschiedlichsten Größen in ein festes Gefüge bringen, klar an Chris Ware. Seine Geschichte „Silent Night“ ist vieldeutig, doch sie erzählt im Kern eine Kreisbewegung, die eine junge Frau, die auf der Straße die Brieftasche eines Selbstmörders findet, am Schluss selbst bis an die Kante zum Suizid heranführt. Und das alles eben nur auf vier Seiten.
Vier großen Seiten, auf schönem Papier gedruckt, englisch broschiert, und dann noch 124 weitere davon, gezeichnet von Stars und Talenten. Der Preis? 15 Pfund oder 18 Euro. Ein Witz. Mehr Qualität kann man für solches Geld nirgendwo bekommen. Mehr Entdeckungen machen auch nicht. Die Ausgaben von „Nobrow“ (leider sind die ersten fünf vergriffen) dürfen als die wahren Wertpapiere dieser Erzählform gelten. Eine aufgeblätterte Leseprobe, klein, aber aussagekräftig, bietet https://www.nobrow.net/15288.