Comic

Comic

Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Vom Comic kontaminiert

| 1 Lesermeinung

Eine Lektüre, die Sie nie wieder loslassen wird: Emmanuel Lepages Reisereportage „Ein Frühling in Tschernobyl“

Es gibt diese Momente, in denen etwas längst Vergessenes einen wie ein Schlag trifft. So ging es mir jetzt mit einem Comicband, der in einem Stapel von Büchern, die ich zu lesen mir vorgenommen hatte, ganz nach unten gerutscht war, noch eingeschweißt. Weiß Gott: Das wäre er besser geblieben. Nicht, weil er schlecht ist, o nein! Weil er gut ist und einen nicht mehr loslässt, einen geradezu kontaminiert mit seiner Geschichte.

Die Metapher ist bewusst gewählt, denn es geht um Tschernobyl. Im April 2008 ist Emmanuel Lepage in das verstrahlte Gebiet des 1986 havarierten Atomkraftwerks gefahren. Das Areal liegt in der Ukraine, und heute liest man sein nach der Reise entstandenes Reportage-Album auch als Ankündigung der gegenwärtigen politischen Katastrophen, denn unausgesprochen steht der Vorwurf russischer Arroganz gegenüber der Ukraine auch beim Gau im Raum, allemal nach der Lektüre von Lepages 160 Seiten. Das hätte ich im Herbst 2013, als der Band beim Splitter Verlag auf deutsch erschien, wohl noch nicht bemerkt. Segen der Verspätung.

In Frankreich ist „Ein Frühling in Tschernobyl“ 2012 erschienen; Lepage hat also fast vier Jahre an der Reportage gearbeitet, für die er zwei Wochen lang nach Tschernobyl gereist war. Die Anregung kam von einer französischen Künstlergruppe namens „Dessin’Acteurs“, die durch ihre dokumentarischen Zeichnungen das kulturelle Leben im verstrahlten Gebiet wiederbeleben wollte und in einem Dorf zwanzig Kilometer vor der Verbotenen Zone Domizil gefunden hatte. Dorthin fuhr Lepage mit einem Kollegen, doch schon die Vorbereitung dieser Reise (und die Rechtfertigung gegenüber der Familie, den Freunden) füllt die ersten dreißig Seiten, bis der Franzose mit dem Zug in Kiew eintrifft.

Auf der Fahrt liest er das Buch „Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft“ von Svetlana Alexijewitsch, der letztjährigen Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels. Ihre Zeugengespräche mit Verstrahlten und deren Angehörigen sind eine furchtbare Lektüre, und Lepage stellt ihr nun einen nicht minder bedrückenden Comic an die Seite, obwohl er viel weniger schreckliche Dinge erfahren hat. Doch wie er die tote Welt um die Kraftwerkruine zeichnet – meist Grau in Grau, aber immer in stark ausgebleichten Farben –, das vermittelt die Menschenfeindlichkeit dieses Ortes, an dem die Natur paradoxerweise längst zur Rückeroberung angesetzt hat (anzusehen unter https://www.splitter-verlag.eu/ein-fruehling-in-tschernobyl.html#).

Wobei es interessant ist, dass Lepage seine Skizzen während des Aufenthalts mit Pastellkreiden anlegte, also ganz farbig, und erst beim Zeichnen der Reportage selbst die ästhetische Entscheidung traf, jenes kalte Erscheinungsbild zu wählen, das nun den Band prägt – obwohl er ja im beginnenden Frühling unterwegs war. So treten dann seine reproduzierten Skizzenblätter wie impressionistische Blitze in die Handlung ein, und es gibt eine Sequenz, in der Lepage über die Angemessenheit solcher Darstellungen nachdenkt, ehe er zu der Entscheidung gelangt, dass sein Porträt von Tschernobyl anders aussehen muss.

Der Franzose ist als Beobachter unterwegs gewesen, nicht als Gesprächspartner mit den Einheimischen. Wenn er sich unterhält, dann vor allem mit anderen Franzosen. Es ist also ein ganz anderer Ansatz als im Falle von Alexijewitsch, aber auch ein legitimer, weil durch und durch subjektiver, der das Gesehen auf Übereinstimmung mit den eigenen Klischees und Erwartungen überprüft. Dieser ganz persönliche Blick des einsamen Mannes in den Wäldern von Tschernobyl setzt sich im eigenen Kopf fest. Die fremde Welt wird nie heimisch, aber doch zugänglich. Nur selbst dorthin, das möchte man nie.

Emmanuel Lepage ist siebenundvierzig Jahre alt und Vater zweier Kinder, er lebt in Paris. Diese Kontraste zur Tristesse um Tschernobyl, wo viele Menschen jünger gestorben, die Kinder krank und die Lebensbedingungen schlecht sind, bestimmt die Lektüre. Warum ich den Band, als er mich vor Monaten erreicht haben muss, aus den Augen verloren habe, vermag ich nicht zu sagen. Als er nun wiederauftauchte, strahlte er mir geradezu entgegen. Er wollte geöffnet werden. Und mir ist klar, dass ich ihn nie wieder ganz zu bekommen werde.


1 Lesermeinung

  1. MilanPrager sagt:

    Tchernobyl ist überall
    Die Rückeroberung dessen was einmal war bedarf eines Zeitfensters von Generationen und selbst dann bleibt die Beobachtung oberflächlich. Einen Tag Sonnenschein wurde zum Prager Frühling hochstilisiert. Als dann doch irgendwann eine Art Wende kam belog man sich selbst und den Rest der Welt. Die Kriminellen wurden noch krimineller und ganz Europa, also nicht nur Osteuropa, hat sie umarmt.
    Alles ist ausgerichtet auf Vertuschung, mit der Unterstützung der Bürokraten von Brüssel. Das ist die Erfahrung die man als Wirtschaftsprüfer macht. Selbst Kapitalvergehen wie Mord wurden nicht nachgegangen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die zwei Opfer Deutsche waren. Der Täter war bekannt, wie es ein vertrauenswürdiger gewissenhafter Katholik es uns vor wenigen Jahren mitteilte.
    Der Kampf gegen die Kriminaliät ist ein ungleicher Kampf, der Sumpf ist schlicht und einfach zu tief.

Kommentare sind deaktiviert.