Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Helden wollten sie nicht sein, Comichelden sind sie nun

„Herbst der Entscheidung“ erzählt davon, wie ein junger Mann in Leipzig zum Wegbereiter der Friedlichen Revolution von 1989 wird. Der Comic verbindet Historiographie und Fiktion zu einer eindrucksvollen Dokumentation von Sieg und Scheitern.

Christian Führer war als Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, aus deren Friedensgebeten die Montagsdemonstrationen entstanden, einer der Helden der Friedlichen Revolution von 1989. Und er war in den letzten Jahren in Leipzig mein Nachbar, aber man sah ihn nur selten, denn er war schon krank, als er im Haus nebenan einzog, und wenn ich ihn sah, wie immer in seine berühmte Jeansweste gehüllt, dann wollte ich ihm seine Zeit nicht stehlen. Eine dumme Vorstellung, denn Führer hatte so viel zu erzählen, hatte mir auch schon so viel erzählt im Rahmen der Veranstaltungen, auf denen er in Leipzig auftrat, oder in Predigten. Erst 2008 hatte der 1943 Geborene seine Pfarrstelle aufgegeben.

Vor wenigen Wochen, am 30. Juni, ist Christian Führer gestorben. In diesem Jahr, ein Vierteljahrhundert nach der Friedlichen Revolution, erhielt er noch den Deutschen Nationalpreis zugesprochen, gemeinsam mit seinem Kollegen Christoph Wonneberger von der Lukasgemeinde in Leipzig und Uwe Schwabe, einem Mitbegründer des Neuen Forums in der Stadt. Alle drei sind nun auch Protagonisten eines Comics, der von jenem Herbst erzählt, als Leipzig sich den Beinamen „Heldenstadt“ verdiente, den Christoph Hein ihr offiziell verleihen lassen wollte. Aber diese Helden wollten gar keine sein.

Der Comic heißt „Herbst der Entscheidung“, erschienen ist er im Ch. Links Verlag, und was ihn besonders macht, ist die Tatsache, dass er zwei in Leipzig lebende Autoren hat: Bernd Lindner, wissenschaftlicher Mitarbeiter im dortigen Zeitgeschichtlichen Forum, hat ihn geschrieben, Peter M. Hoffmann, Illustrator für etliche deutsche Zeitungen und Zeitschriften, hat ihn gezeichnet. Im Mittelpunkt steht eine fiktive Person, der siebzehnjährige Daniel, von dem als Sohn eines Professors erwartet wird, dass er sich in der DDR zum mehrjährigen Militärdienst verpflichtet, ansonsten würde sein Studienplatz obsolet (wir kennen dieses Motiv aus Uwe Tellkamps „Der Turm“). Doch Daniel hat Gewissensbisse und will keinesfalls mehr als die normale Dienstzeit absolvieren. Er ist kein Staatsfeind, aber er sucht in der Nikolaikirche Argumentationshilfe. So gerät er in den Umkreis der Friedensaktivisten.

Deren Kern ist eine vierköpfige Gruppe um einen gewissen Uwe, der im Comic ziemlich exakt nach dem wahren Schwabe gestaltet ist, genau wie auch dessen Mitstreiter Katrin, Gesine und Chris reale Vorbilder haben. In Katrin verliebt sich Daniel, das ist etwas melodramatisch, aber ohne übertriebene Bedeutung fürs Geschehen. Wie man mehr oder minder durch Zufall in die Ereignisse von 1989 hineinrutschen konnte, wird hier sehr anschaulich. Nein. Helden wollten sie nicht nur nicht sein, sie waren es auch nicht.

Umso bewundernswerter ist, was geschah, was die Friedensaktivisten und das Neue Forum ausgelöst haben. Auf achtzig Seiten wird streng chronologisch von Anfang September bis Ende November 1989 erzählt, immer aber aus der Perspektive Daniels. Dabei stehen mehr als die Umbrüche die enttäuschten Hoffnungen der für die Montagsdemonstrationen Verantwortlichen im Mittelpunkt, die auf die Straße gingen, um die Menschen zum Bleiben in der DDR zu bewegen und deshalb vom Regime Zugeständnisse forderten. Mit dem Mauerfall war der Traum von einem reformierten sozialistischen Staat obsolet. Hätte er je eine Chance gehabt? Der Comic zeigt denkbar kluge Akteure, aber eben auch ihren Unwillen, sich auf klassische Politik einzulassen.

Das macht ihn so interessant, und da Peter M. Hoffmann in einem realistischen Stil zeichnet, wirken die schwarzweißen Bilder wie eine dokumentarische Inszenierung. Jeder Schauplatz der Handlung ist auffindbar, und in einem Glossar werden etliche Ereignisse oder Äußerungen erklärt, so dass „Herbst der Entscheidung“ auch ein gezeichnetes Geschichtsbuch ist – bis hin zur Übernahme der berühmten „Zonen-Gabi“ von einem „Titanic“-Titelblatt in ein Bild des Comics. So kommt selbst die damalige Satire noch zu ihrem Recht.

Man spürt in der Erzählung bisweilen die Traurigkeit über das Scheitern der Ambitionen des Neuen Forums, und das Ende ist offengehalten. Doch egal, wie Daniel sich entscheiden wird: Als jüngst die Europawahlen abgehalten wurden, stand das Neue Forum in Leipzig als letzte Partei auf dem Wahlzettel, was wohl Auskunft über seine heutige Bedeutung gibt. Schon bei der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 erhielt es als Speerspitze des vorherigen Umsturzes im Rahmen des Parteienverbunds „Bündnis 90“ lediglich 2,9 Prozent.

Ein Lehrstück ist dieser Comic also, und obwohl lehrreich, auch sehr gut zu lesen. Über Christian Führer habe ich, obwohl er nur sporadisch auftritt, Neues erfahren. Dass der Band unmittelbar nach seinem Tod erschienen ist, macht ihn auch ein wenig zu einem Epitaph auf den mutigen Pfarrer. Führer hätte sich in den handelnden Personen gewiss wiedergefunden, auch in denen, die darin neben ihm selbst agieren.