Kurz vor Silvester bin ich durch Brooklyn gegangen, zum Hafengelände hinab, dem alten Herz des New Yorker Stadtteils mit fast drei Millionen Einwohnern. Oberhalb des Gowanus Expressways, der sich auf hohen Stelzen quer durch das Viertel zieht und sich dann auch noch verzweigt, links in die Zufahrt zum Hugh-L.-Carey-Tunnel, rechts in den Brooklyn-Queens-Expressway, ist das Stadtbild kleinteilig und lebendig, dahinter folgen die Red Hook Houses, für die 1938 radikal alle Altbebauung abgebrochen wurde, damit hier in jeweils uniformen Backstein-Sechsgeschossern neuer Wohnraum für mehr als 2500 Familien geschaffen werden konnte. Der Abriss veränderte das Viertel unwiderbringlich, und der Expressway sorgte zusätzlich für die Abtrennung und Isolierung der Südspitze des alten Brooklyns.
Verantwortlich dafür war Robert Moses, ein 1888 geborener Stadtplaner deutschjüdischer Abstammung, der ununterbrochen von 1924 bis 1968 für die Entwicklung New Yorks verantwortlich war. Er machte die Stadt autogerecht, erschloss Naherholungsgebiete in der Umgebung für die Mittelschicht, ließ Hunderte von kleinen Spielplätzen auf Grundstücksbrachen errichten und genehmigte Bauten wie das Rockefeller Center, die Verrazano Bridge oder eben die Expressways. Er arbeitete neben (nicht unter) fünf Bürgermeistern, sechs Gouverneuren und sieben Präsidenten, und als der Gouverneur Nelson Rockefeller ihm die Einnahmen aus den Straßengebühren wegnahm, mit dem Moses sein Planungs- und Bauamt finanziell autark hatte halten können (was den Bau weiterer Expressways, Brücken oder Tunnel begünstigte), war der Stadtplaner entmachtet.
Ein Leben so groß wie die Stadt, in der es sich abspielte. Und eines, bei dem man die Bilder schon vor sich sieht: riesige Horizontalen für die Strände, Brücken und Straßen, die Moses gestaltete, gewaltige Vertikalen für die New Yorker Hochhäuser, die dafür den Rahmen boten. Ein idealer Stoff also für einen Comic, und das konnte jemandem wie Pierre Christin nicht entgehen, der für diverse französische Zeichner wie Bilal, Mezières, Boucq und andere Große Szenarien mit bisweilen phantastischen Architekturvisionen (vor allem in Mezières “Valerian und Veronique”) geschrieben hat. So fand ein amerikanischer Stadtplaner seinen Biographen in einem Franzosen.
Natürlich gab es schon zuvor Bücher über Moses, dessen Schaffen schon zu Lebzeiten (er starb 1981) kontrovers beurteilt wurde. Der mittlerweile sechsundsiebzigjährige Christin aber hat in mehrfacher Hinsicht einen attraktiv fremden Blick auf den New Yorker: nicht nur als Franzose, sondern auch als Philosoph, Historiker, Ästhet, und das alles merkt man seinem Szenario zur gezeichneten Biographie von Robert Moses an. Es ist akribisch recherchiert, auch durch mehrfache Besuche in New York. Der einzige Wermutstropfen ist, dass nicht jemand wie Francois Schuiten (der gemeinsam mit Benoit Peeters die Sereie “Die geheimnisvollen Städte” als Idealbild aller urbanistischen Comics geschafen hat und die Realität hasst, aber den Visionär Moses geliebt hätte), sondern der zweiundvierzigjährige Zeichner Olivier Balez das Szenario umgesetzt hat.
Wobei das gar nicht schlecht aussieht (eine ungewöhnliche Einsichtmöglichkeit unter https://www.nobrow.net/16678), nur mangelt es am Schuiten-typischen Pathos (das auch Mezières hat) und Aberwitz, der zu Moses so gut gepasst hätte, auch in dessen Betonung von Modernität. Balez nämlich taucht seine Seiten in eine dunkle Kolorierung, die viel eher das New York des frühen zwanzigsten Jahrhunderts heraufbeschwört, als die vibrierende Stadt nach Überwindung der Depression (durch die Moses etliche Projekte genehmigt bekam, die dann die Basis für seine Hausmacht bildeten). Nicht einmal in den sechziger Jahren, als sich Bürgerprotest gegen Moses‘ rücksichtslosen Umgang mit den alten Strukturen regte, hellt es sich im Comic auf. Dabei tritt im vierten und letzten Kapitel mit der Aktivistin Jane Jacobs erstmals ein ernstzunehmender Gegner auf, die für eine menschen- statt autogerechte Stadt eintrat.
Natürlich hätte man diesen Comic auch vorstellen können, als er im französischen Original oder auf Deutsch bei Carlsen erschien (beides im letzten Sommer). Aber nun, kurz danach, ist er auch auf Englisch herausgekommen, noch dazu im fabelhaften Nobrow Verlag, dessen Bücher zum Schönsten gehören, was es zu lesen gibt. Und da es ja um einen Amerikaner geht, ist es nur passend, sich dieser Übersetzung anzunehmen. Die Nobrow-Gestaltung macht (obwohl sie bildidentisch mit dem französischen Original ist) durch besseren Druck aus Balez‘ dunkler Graphik eine Tugend und bietet das ganze dar wie einen Noir-Film. Und das passt dann auch wieder, obwohl man Christin nicht den Vorwurf machen kann, Moses dämonisiert zu haben. Was ich tun würde, wenn ich an seine gewaltsame Teilung Brooklyns denke.