Man kann nicht sagen, dass das Glück in Angoulême vollkommen gewesen wäre, als gestern gleich zwei Große Preise verliehen wurden. Nur merkte man davon nichts, denn die eigentliche Preisübergabe fand wetterbedingt nicht wie üblich auf dem Rathausbalkon, sondern in den repräsentativen Innenräumen statt, wodurch nur geladene Gäste etwas von dem mitbekamen, was geschah. Und das, was da geschah, erregte heute die Gemüter in der südwestfranzösischen Stadt, die sich viel auf zwei Dinge zugute hält: auf ihre illustre Vergangenheit als Sitz eines bedeutenden Grafengeschlechts und auf ihre Rolle als Comichauptstadt Europas. Deshalb wurden die beiden Preisträger nur sehr eingeschränkt gutgeheißen.
Bei „Charlie Hebdo“, der Satirezeitschrift, die drei Wochen nach dem Attentat auf ihre Redaktion, als erste in den Genuss eines Spezial-Grand-Prix kam, war an der Entscheidung nicht zu rütteln – alle in Angoulême stehen hinter dem Blatt. Aber das Blatt steht nicht hinter Angoulême. Deshalb entsandte die Redaktion keinen eigenen Mitarbeiter zur Preisverleihung, sondern ließ die Auszeichnung durch Jean Christophe Menu stellvertretend entgegennehmen. Menu ist als Zeichner und Verleger einer der streitbarsten Geister des französischen Comics und hatte als Aufgabe laut eigener Aussage nur eine Aufgabe: er selbst zu sein. Dann würde sich „Charlie Hebdo“ durch ihn blendend repräsentiert fühlen.
Bei seinen Dankesworten nahm Menu entsprechend kein Blatt vor den Mund. Keineswegs fühle sich „Charlie Hebdo“ von allen geschätzt, die sich nach den Morden als solidarisch erklärt haben. Man nehme nur den Bürgermeister von Angoulême. Das sei ein Schwachkopf, der die öffentlichen Bänke in seiner Stadt habe einzäunen lassen. Der auf diese Weise wenig schmeichelhaft bezeichnete Würdenträger, der den Preis immerhin gerade erst an Menu übergeben hatte, machte offenbar gute Miene zum sarkastischen Spiel, doch die Lokalpresse schäumte am Freitag über den dreisten Dank. Wobei Menu abermals nur die Anregungen seiner Freunde von „Charlie Hebdo“ befolgt haben wollte, die sich über die Einzäunung von Straßenbänken im Winter (um zu vermeiden, dass sich Obdachlose darauf legen) beklagt und ihn beauftragt hätten, diese anzuprangern. Dass es sich dabei um Satire der Redaktion eines Satiremagazins handeln könnte, kam in Angoulême wohl niemand in den Sinn.
Gravierender ist da die bereits einsetzende Kritik am eigentlichen Großen-Preis-Gewinner dem Japaner Katsuhiro Otomo. Die wichtigste europäische Comicauszeichnung gilt einem Lebenswerk, und der Sieger wird gleichzeitig zum Präsidenten des nächstjährigen Comicfestivals. In diesem Jahr war in Angoulême allerdings vom Präsidenten nichts zu sehen, denn Bill Watterson, Schöpfer der Comic-Strip-Serie „Calvin & Hobbes“, dachte gar nicht daran, sein selbstgewähltes und seit einem Vierteljahrhundert konsequent gewahrtes Inkognito zu lüften. Und 2016 droht wohl etwas Ähnliches. Niemand erwartet, dass Otomo, der sich nach dem Erfolg seines Manga „Akira“ in den achtziger Jahren ähnlich wie Watterson von den Comics weitgehend zurückgezogen hat, nach Frankreich kommen wird, um dem Festival vorzustehen. Dieses Desinteresse der Ausgezeichneten verletzt den Stolz der Menschen in Angoulême.
Deshalb werden wieder einheimische Preisträger verlangt (wobei man daran erinnern könnte, wie aktiv die beiden Amerikaner Robert Crumb und Art Spiegelman ihre jeweiligen Präsidentschaften betrieben haben). Aber unter den drei Finalisten um den Großen Preis gab es diesmal keinen einzigen Franzosen, und der Brite Alan Moore wäre im Falle seines Sieges gewiss auch nicht gekommen (der Belgier Hermann dafür umso sicherer, aber er gilt als politisch heikler Fall). Kurt gesagt: Früher war beim Festival alles besser. Und so sollte es nach dem Willen der Öffentlichkeit bitte wieder werden.
Doch was passieren kann, wenn man sich zu sehr an die Vergangenheit klammert, das war am heutigen Freitag im Theater der Stadt zu erleben. Dort war die neueste Ausgabe einer Besonderheit des Comicfestivals von Angoulême zu erleben: Um 14 Uhr stand ein Concert de dessins auf dem Programm. Diese Bezeichnung hatte Angoulême sich schützen lassen, als es das Prinzip vor zehn Jahren erfand: Comickünstler zeichnen auf der Bühne zu live gespielter Musik, und die Entstehung ihrer Bilder wird durch Kameras auf eine große Leinwand übertragen, so dass das Publikum im Saal ein synästhetisches Vergnügen hat. So weit so gut.
Ich erinnere mich an meine ersten Besuche von Concerts de dessins, damals bestritten von Blutch als alleinigem Zeichner beziehungsweise Dupuy & Berberian, einem Künstlerduo, das damals noch als untrennbar galt – und als ununterscheidbar in der jeweiligen Arbeit. Das Konzert bewies, dass die beiden durchaus unterschiedlich zeichneten, aber da stand eben ein eingeschworenes Team auf der Bühne; beide wussten, was der jeweils andere wollte, und so ergänzten sich ihre Bilder perfekt. Und Blutch duldete erst gar nicht jemanden anderen als Zeichner auf der Bühne. Zudem waren es damals Abendveranstaltungen. Auch das hat seine Bedeutung.
Diesmal standen nicht eine oder maximal zwei, sondern gleich acht Zeichner auf der Bühne, die in zwei Gruppen zu jeweils vier Personen kollektiv an ihren Bilder arbeiteten. Wirkte früher alles spontan aus dem Erlebnis der Musik geschaffen, so war diesmal alles bis ins Kleinste abgesprochen, was man sofort daran merkte, dass es einen vorproduzierten und zu Beginn des Konzerts eingespielten Film gab, der den Diebstahl eines Huts durch einen maskierten Herrn zeigte. Bestohlen wurde der Musiker Aleski Belkacem, und zwar in der Garderobe des Theaters von Angoulême (https://www.bdangouleme.com/571,concert-de-dessins).
Das war die Ausgangsbasis für das Konzert. Vier weitere Musiker (für Keyboard, Bass, Schlagzeug und Gitarre) kamen nacheinander auf die Bühne, doch noch bevor man sie überhaupt sah, wurden sie schon gezeichnet, und zwar täuschend echt, also vorher eingeübt. Aleski trat dann als Letzter auf, aber nur um sich zu weigern, seine Aufgabe als Sänger zu erfüllen, ehe sein Hut wieder da sei. Und so spielte seine Band dann eben allein, während Aleski mit dem Rücken zum Publikum schmollte und die beiden Zeichnergruppen auf ihren Bildern zur flotten Instrumentalmusik eine Verfolgungsjagd auf den Dieb inszenierten, die natürlich am Ende erfolgreich sein musste, damit das letzte Stück doch noch gesungen werden konnte. Ein in seiner Schlichtheit geradezu kindisches Konzept.
Das liegt daran, dass um 14 Uhr natürlich ein Großteil des Publikums aus Kindern besteht. Früher waren die Concerts de dessins ästhetische Erlebnisse, jetzt sind es reine Spektakel, auch wenn mit den Franzosen Jean-Louis Tripp und Alfred, dem Amerikaner Derf Backderf und dem Engländer Luke Pearson gleich vier international berühmte Zeichner agierten. Und Nie Jun aus China stahl allen die Schau, weil er binnen Sekunden Figuren auf dem Papier zum Leben erwecken konnte. Doch was hilft das, wenn die Handlung der zu erzählenden Geschichte so banal ist? Es war zwar bemerkenswert zu beobachten, wie einige Zeichner selbst für sie auf dem Kopf stehende Elemente eines Bildes ergänzen konnten, ohne dass es einen Bruch in den Linien gegeben hätte, doch das war mehr Artistik als Beseeltheit. Das Festival von Angoulême hat einen Mythos zugunsten größerer Popularität geopfert. Darüber aber beklagt sich niemand.
Lokalpatriotismus hilft nicht gegen Dummheit
Bei dem durch J.-C. Menu vorgetragenen Seitenhieb auf den konservativen Bürgermeister handelte es sich natürlich um Satire.
Dieser hatte in jüngster Zeit von sich reden gemacht weil er die öffentlichen Bänke durch einen Metallkäfig “sichern” lies um zu verhindern dass Obdachlose sich dort niederlassen:
“Die Gitter an neun Sitzgelegenheiten waren genau Heiligabend installiert worden, um Obdachlose von den Bänken fernzuhalten.
Jugendlichen war es gelungen, in eine der käfigartigen Konstruktionen einzudringen. Dort ließen sich zwei Teenager auf der Bank kauernd fotografieren. Die Aufnahme der beiden, die wie in einer Zelle saßen, wurde per Internet verbreitet. Die Zäune seien aus Sicherheitsgründen vorläufig wieder entfernt worden”.