Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Mit Mangakräften durchs Eismeer

Jetzt auch Hinstorff. Wer oder was Hinstorff ist? Ein extrem interessanter Rostocker Verlag mit großer DDR-Vergangenheit insofern, als dass damals dort Bücher erscheinen konnten, die es in anderen ostdeutschen Häusern, die näher an oder gar in Ost-Berlin lagen, schwer gehabt häten. Ich sage nur Ulrich Plenzdorfs „Neue Leiden des jungen W.“. Oder denken wir an Jurek Becker, Gert Neumann, Franz Fühmann. Aber Hinstorff ist noch viel älter, gegründet 1831. Und nun, nach 184 Jahren, erscheint der erste Comic des Verlags. Und es ist keine Lizenzausgabe eines ausländischen Erfolgs, sondern eine Eigenproduktion, geschrieben und gezeichnet von einer Debütantin, also ein Wagnis. Schön, dass Hinstorff es eingeht.

Es dürfte sich lohnen. Der Comic heißt „Im Eisland“ und stammt von Kristina Gehrmann, die keine Rostockerin ist, sondern in Hamburg lebt. Hansestadt und Hansestadt verbindet natürlich die Liebe zur Seefahrt, und das heutige Programm von Hinstorff rekrutiert sich zu nicht unwesentlichen Teilen neben Heimatlichem aus Maritimem. Da passt „Im Eisland“ gut rein.

Kristina Gehrmann erzählt darin die Geschichte der Franklin-Expedition. Für Freunde der Polarregion oder Liebhaber großer Entdeckergeschichten muss ich nicht mehr sagen. Für die anderen: Sir John  Franklin leitete 1845 eine aus zwei Schiffen bestehende Expedition aus, die sich in staatlichem Auftrag und mit privaten Geldern finanziert zum Ziel gesetzt hatte, die Nordwestpassage zu finden, also eine Schiffsroute vom Atlantik in den Pazifik oberhalb von Kanada. Die Schiffe verschwanden, und Suchmissionen konnten in den Folgejahren durch einzelne Spuren nur feststellen, dass 1848 die letzten Überlebenden der ursprünglich 134 Mann gestorben waren – verhungert, erfroren, von Krankheiten getötet. Im Herbst 2014 erst wurden in der kanadischen  Victoria Strait Schiffsreste im Meer gefunden, die als eines der beiden Franklin-Schiffe identifiziert werden konnten. Der Expeditionsleiter selbst war schon 1847 gestorben.

Ein großer Stoff also, ein schrecklicher, ein höchst umstrittener zudem, denn schon die ersten Suchexpeditionen hörten von Eingeborenen der Polarregion, dass einzelne Angehörige der Schiffsbesatzungen aus Hunger angefangen hätten, die Leichen ihrer Kollegen zu verspeisen. Das rührte ans Ehrgefühl der Royal Navy, und bis heute ist die Debatte darüber nicht beendet. Gehrmann selbst schreibt auf ihrem Blog „Mondhase“ (https://www.mondhase.com/just-drew-graphic-novel-franklin-expedition/), sie wäre so besessen von all den offenen Fragen um die Franklin-Expedition gewesen, dass sie den Comic einfach zeichnen musste. Respekt, wenn’s stimmt. Denn es sind insgesamt sechshundert Seiten geworden.

Die ersten zweihundert sind nun erschienen, als Band 1 der Trilogie „Im Eisland“. Gehrmann fiktionalisiert das Geschehen an Bord notgedrungen, denn man weiß ja nur anhand einiger aufgefundener Dokumente, was passiert ist, alle Beteiligten starben, bevor einer etwas aus eigenem Erleben hätte berichten können. Im Mittelpunkt des ersten Bandes steht der zwanzigjährige Oberheizer John Torrington, der aus Abenteuerlust und finanziellen Gründen (doppelte Heuer als Gefahrenzulage) mit an Bord ging. Am Ende des Comics ist Torrington tot, als erster der Expedition gestorben an Schwindsucht und Lungenentzündung. Es ist ein wohlkalkulierter Schock, den Gehrman ihren Lesern zum Schluss des ersten Teils verpasst, denn wie das Ganze ausgeht wissen wir ja: Am Ende von Band 3 werden alle tot sein. Dass der vermeintliche Hauptheld schon nach dem erstzen Drittel stirbt, signalisiert, dass es einige Überraschungen geben wird.

„Im Eisland“ ist aufgemacht wie ein Manga (Leseprobe unter https://www.hinstorff.de/modules/pdfreader/uploads/0003bdd95411c413e2d683ec1e6d9e1a.pdf), und Gehrmanns Zeichenstil verdankt der japanischen Erzählweise viel (die Schwarzweiß-Rastertechnik, die oft noch kindlichen Gesichter, die Seitenarchitektur). Das ist aber keinesfalls von Schaden, denn zugleich hat sie auch die akribische Recherche übernommen, die japanische Mangaka betreiben, wenn es um realistische Dekors geht. Für nautisch interessierte Leser dürfte die Lektüre eine reine Freude sein, und mit Hinstorff hatte Kristina Gehrmann eben auch genau den richtigen Verlag dafür. Da könnte ein sehr ungewöhnliches Projekt entstehen, mit dem eine weitere Lücke im deutschen Comicangebot geschlossen wird: die große historische Abenteuererzählung.

Bis zum nächsten Frühjahr soll die Trilogie komplett sein, derzeit arbeitet Gehrmann am Abschlussband. Da wird sie dann wohl die kanadischen Funde vom vergangenen Herbst mit einarbeiten, die im jetzt publizierten Auftakt noch unberücksichtigt blieben. Die Rätsel beginnen sich zu lüften. Doch es wird genug unklar bleiben, dass die Rekonstruktion in diesem Comic weiterhin reizvoll zu lesen bleibt. Und das, was wir wissen, das wird wundervoll in die Handlung integriert – etwa die Bleivergiftung der Matrosen durch Lebensmittelkonserven, die als eine der Ursachen für das Scheitern genannt wird. Das letzte Kapitel des Auftaktbands wird eingeleitet durch die ganzseitige Zeichnung einer Konservenbüchse, ohne dass dazu etwas gesagt würde. Man schaudert.