Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Bilder, die das Hörenspüren lehren

Wenn in letzter Zeit geradezu verdächtig viele Comics des Verlags Egmont Graphic Novel in diesem Blog vorkommen, so liegt das an der höchst ungewöhnlichen, man könnte auch sagen eklektischen Titelauswahl dieses Hauses, das sich nach der Neuorganisation vor einem Jahr vor allem an anspruchsvolle Lizenzausgaben versucht. Dabei ist man in Köln extrem experimentierfreudig, und so kommt denn auch mal ein Band heraus wie nun „Sprechende Hände“, den ich mir eigentlich bei keinem einzigen deutschen Verlag hätte vorstellen können.

Das liegt gar nicht mal am großen Thema, denn das hat – nicht zuletzt durch meine F.A.Z.-Kollegin Melanie Mühl – zuletzt in Deutschland große Aufmerksamkeit gefunden. Es geht um Taubblinde, also jene recht kleine Gruppe von Menschen, die weder hören noch sehen können und es demensprechend schwer haben, den Umgang mit anderen Personen zu erlernen. Deshalb galten und gelten sie oft als debil, und ihr schweres Los wird durch eine falsche Behandlung seitens ihres Umfelds oder auch der Medizin noch verschlimmert. Tatsächlich konnten erst in den letzten Monaten einige Dutzend deutsche Taubblinde ausfindig gemacht werden, deren Handicap bislang völlig falschdiagnostiziert worden war.

Doch „Sprechende Hände“ ist kein Comic, der in der Gegenwart angesiedelt wäre, sondern eine historische Erzählung. Sein Autor, der 1984 geborene Amerikaner Joseph Lambert, hat sich einen berühmten Fall aus seinem Heimatland als Vorlage gewählt: die 1880 geborene Schriftstellerin Helen Adams Keller, deren Schicksal noch mehr als durch ihre Bücher durch diverse Verfilmungen bekannt wurde, davon der prominenteste Arthur Penns „Licht im Dunkel“ von 1962 mit Anne Bancroft, die allerdings nicht Helen Keller spielte, sondern deren Lehrerin Anne Sullivan.

Lambert nimmt sich den Film insoweit zum Vorbild, als auch in seinem Comic die Entdeckung im Mittelpunkt steht, dass sich hinter der scheinbaren Hilflosigkeit des Mädchens Helen Keller eine höchst sensibler und kunstsinniger Geist verbirgt. So steht denn auch in „Sprechende Hände“ das Paar Sullivan/Keller im Mittelpunkt, und nicht unwesentliche Passagen erzählen vom gleichfalls komplizierten Lebensweg der Anne Sullivan, die selbst sehbehindert war und durch die eigene Biographie wusste, wie man mit einer Taubblinden umzugehen hatte. Natürlich macht der positive Ausgang die ganze Geschichte höchst erbaulich.

Was sie interessant macht, ist der formale Aspekt, den Lambert wählt. Seine Zeichnungen sind ästhetisch nicht weiter der Rede wert, durchschnittliches Zeug nach dem Vorbild französischer Autoren wie etwa Hubert und Kerascoet („Fräulein Rühr-mich-nicht-an“). Aber die Strenge seiner Seitenarchitektur ist faszinierend. Grundmodell ist ein Sechzehnerraster (vier Reihen à vier jeweils gleichgroßen Bildern), aus dem nur selten ausgebrochen wird und wenn doch, dann nur mit Bildern, die jeweils Vielfache der kleinen Panels sind – eine Leseprobe bietet https://www.egmont-graphic-novel.de/graphic-novel/sprechende-haende/. Das kenne wir von David Mazzucchellis und  Paul Karasiks „Stadt aus Glas“, aber es ist schön, das so konsequent wiederzusehen. Zudem hat Lambert für die sprechenden Hände des Titels eindrucksvolle Schemenbilder gezeichnet, die das Gefühl illustrieren, das die kleine Helen Keller beim Unterricht ihrer Lehrerin empfand – und das war der einzige Weg für sie, sich Sprache anzueignen: Gebärdensprache natürlich, aber die konnte sie ja nicht sehen. Bisweilen lernt man im Comic regelrecht mit.

Es ist dennoch eine seltsame Lektüre, weil der historische Fall der Helen Keller für ein deutsches Publikum kaum Relevanz besitzt. Für amerikanische Leser kommt der interessante Kontrast zwischen der in den Nordstaaten aufgewachsenen Sullivan und dem nach der Niederlage im Bürgerkrieg desillusionierten Süden, in dem die reiche Familie Keller lebt, hinzu. Es gibt zu einigen Details Anmerkungen, aber dass aus Helen Keller eine Schriftstellerin wurde, das muss man schon wissen, denn der Comic erzählt es nicht. So gesehen hat es sich der Verlag sehr leicht gemacht. Vermutlich will er ohnehin nur mit dem Thema Ehre einlegen. Die Emanzipationsgeschichte, die in „Sprechende Hände“ steckt, hat er übersehen.