Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Nichts ist selbstverständlich beim Umgang mit Trisomie 21

Selten habe ich einen Comic mit mehr Skepsis zu lesen begonnen als Fabien Toulmés „Dich habe ich mir anders vorgestellt …“ Weshalb? Na ja, jetzt rede ich erst einmal etwas darum herum und sage, dass mich Toulmés Beiträge zu dem von wechselnden Zeichnern bestrittenen Internet-Fortsetzungscomic „6 aus 49“, der auf diesen Netzseiten publiziert worden ist und vom Verlag Schreiber und Leser gesammelt publiziert wird, meist weniger überzeugt haben als die seiner Kollegen. Oder dass der Stil des 1980 geborenen Toulmé zu nahe an dem von Marc Lizano, Christopher oder auch – um einen ganz großen Namen zu nennen – Guy Delisle ist, als dass ich da noch auf sonstige Originalität hoffen mochte. Aber der eigentliche Grund meiner Skepsis war der: Ich wollte keinen Comic über ein Kind mit Down-Syndrom lesen.

Warum nicht? Das erklärt dieser Comic. Kinder mit Trisomie 21 lösen bei Begegnungen Beklemmungen aus, weil ihr Gendefekt so deutlich sichtbare Folgen hat: jene physiognomischen Züge, die im ehedem meistgebrauchten Namen „Mongoloide“ zum sprechenden Ausdruck kam. Wir werden dadurch erinnert an die Winzigkeit, die es ausmacht, unser Leben so zu verändern, dass wir als Außenseiter gelten: in diesem Fall ein überzähliges Chromosom.

Nichts ist aber die Beklemmung einer bloß zufälligen Begegnung gegen die psychologische Belastung, die es für Eltern bedeutet, ein solches Kind zu haben. Davon erzählt Toulmés Comic. Der französische Zeichner macht kein Hehl daraus, dass es sich um seine eigene Geschichte als Vater einer Tochter mit Down-Syndrom handelt; alle Hauptfiguren tragen die wirklichen Namen seiner Familie. Und Toulmé ist von entwaffnender Ehrlichkeit, vergleichbar nur mit Roz Chaz‘ fulminantem, auch erst kürzlich erschienenem Comic „Können wir nicht über was anderes reden?“, der vom Älter- und Debilerwerden der Eltern der amerikanischen Zeichnerin mit geradezu gnadenloser Offenheit erzählt.

So hält es auch Toulmé. Vor der Geburt hatte keiner der üblichen Tests Hinweise auf den Gendefekt der kleinen Julia gegeben. Umso überraschender und schockierender war dann die Erkenntnis. Toulmé verkraftete sie besonders schlecht, wochenlang ließ er sich krankschreiben, konnte kaum offen darüber reden, brach immer wieder in Tränen aus, und so, wie er die eigenen Vorurteile gegenüber Trisomie-21-Kindern schildert, fühlte ich mich bei der Lektüre laufend ertappt, obwohl ich mich doch für aufgeklärt und souverän hielt.

Was ich erwartet hatte, war ein moralisch appellierender Comic mit Happy Ending: Die Familie schließt Julia in ihr Herz und steht ihr gegen alle äußeren Umstände kompromisslos zur Seite. Genau das geschieht auch, aber erstaunlicherweise gelingt es Toulmé, das von mir als selbstverständlich (und deshalb banal) Erachtete so darzustellen, dass man plötzlich merkt, wie wenig selbstverständlich es ist. Dass es überhaupt nichts Selbstverständliches im Umgang mit einer solchen Situation gibt und dass das, was man sich als Ergebnis wünscht, Resultat einer wirklich heroischen Kraftanstrengung ist, die sich gegen bequeme Lösungen sperrt. Ja, Toulmé, seine Frau, seine ältere Tochter, die Schwiegermütter und manche Ärzten – sie sind echte Helden.

Und dagegen verblasst die in der Tat wenig originelle Graphik mit dem planlosen kapitelweisen Wechsel der Zusatzfarbe. Dagegen verblassen die wie Schlaglichter eingesetzten und deshalb unangenehm grellen Bildmetaphern, die plötzlich auftauchen, als hätte der Zeichner gemerkt, dass da noch irgendetwas fehlt, so etwa wenn das Ehepaar Toulmé in einem Krankenhaus von Pontius zu Pilatus läuft und plötzlich beide als Asterix und Obelix gezeichnet sind, weil das bürokratische Labyrinth den Vater an eine Szene aus dem Trickfilm „Asterix erobert Rom“ erinnert. Oder nehmen wir die unentschlossene Darstellung von Nasen bei Toulmé, in der es kein erkennbares Muster dafür gibt, warum sie je nach Figur einmal lang und gebogen und dann wieder wie ein Rüssel dreigeteilt sind. Nein, ein großer Zeichner ist Toulmé nicht. Aber ein höchst einfühlsamer Erzähler. Den der Avant Verlag von Annika Wisniewski angemessen hat übersetzen lassen (Leseprobe: https://www.avant-verlag.de/comic/dich_hatte_ich_mir_anders_vorgestellt).

Und so geht man aus diesem Comic nicht als geläuterter Mensch, sondern als getrösteter – getröstet über die eigenen Defizite und über die einer Welt, die denn doch nichts gegen Familienliebe und individuelle Lebenslust auszurichten vermögen. Dazu wird man beiläufig belehrt über medizinische Prozeduren und Therapien, die bei der Betreuung von Menschen mit Down-Syndrom hilfreich sein können. Und schließlich wird man den Vorsatz aus der Lektüre mitnehmen, ehrlich auch zu solchen eigenen Charakterzügen zu stehen, deren man sich selbst schämt. Denn das heißt nicht, sie zu akzeptieren, wie man bei Toulmé erfährt, sondern sie besser korrigieren zu können. Keine schlechte Ausbeute für einen Comic, den ich mit spitzen Fingern zu lesen angefangen hatte.