Auf Ferdinand Lutz stieß ich vor etwas mehr als Halbjahresfrist, weil beim Reprodukt Verlag die Folgen seines bei „Spiegel online“ laufenden Kindercomics „Q-R-T“ gesammelt in einem schönen Buch veröffentlicht wurden (https://blogs.faz.net/comic/2015/11/30/ausserirdisch-witzig-803/). Und kürzlich stieß Ferdinand Lutz auf mich, bei einer großen Comicveranstaltung, und drückte mir ein kleines Heft in die Hand, das ganz gewiss nicht auf ein kindliches Publikum zielt. Das heißt jetzt aber nicht das, was Sie denken. Keine Rede also von dem, was in den Siebzigern verschmitzt und verschwitzt als „Erwachsenencomics“ bezeichnet wurde und nur eines bewies: dass die Comics noch lange nicht erwachsen waren. Nein, um Sex geht es nicht, auch wenn man im Titelbild des achtundzwanzigseitigen Oktavheftchens das Bild einer sich teilenden Eizelle zu erkennen glaubt. Doch tatsächlich soll damit gar nichts Konkretes dargestellt werden, denn es handelt sich bei der Publikation um einen abstrakten Comic.
Wie soll das gehen? Das fragen sich Comiczeichner schon lange. Die erste mir bekannte einigermaßen konsequente Antwort gab Moebius in den achtziger Jahren, indem er vier Seiten lang nur mutierende Formen zeichnete, in denen aber doch organisches Leben abgebildet schien – und das Titelblatt von Lutz gleicht denn auch verblüffend einer Serie von kleinformatigen Aquarellen, die Moebius in den neunziger Jahren gemalt hat und bisweilen auch in seine Bücher aufnahm. Geschätzt wird dieser Aspekt seines Werks nicht besonders, obwohl er viel näher am üblichen Kunstbetrieb ist als alles andere, was dieses Genie des Comics gemacht hat. Nach seinem Tod 2001 explodierten die Preise für seine Originale, aber eines dieser abstrakten Bilder wurde vor anderthalb Jahren noch für 300 Euro angeboten. Na ja, immer noch viel Geld für etwa 45 Quadratzentimeter.
Moebius ist jedenfalls nolens volens der Bezugspunkt auch für Lutz, selbst wenn er auf seiner programmatischen Erklärung, die die Rückseite des Heftchens ziert, vor allem Lewis Trondheim mit seinem 2003 erschienenen „Bleu“ als Vorbild nennt. Das aber war Ausdruck von Trondheims Bewunderung für Moebius (der so ziemlich der einzige Zeichner sein dürfte, den Lewis Trondheim ohne Einschränkung bewundert), und deshalb ist es nur konsequent, beim Lutzschen Werk auch an den großen Franzosen zu denken. Wobei der Deutsche durch einen simplen Kunstgriff zumindest graphisch der Falle entgeht, in die Moebius fiel. Lutz zeichnet nicht nur einfach abstrakte Formen, sondern er variiert sie auch von Seite zu Seite, so dass nicht wie bei Moebius der Eindruck entsteht, es handele sich um eine Metamorphose des immer gleichen Körpers.
Sic tacuisses, abstractus mansisses. Aber der Comic von Lutz schweigt nicht. Ganz im Gegenteil: Seine abstrakten Gebilde reden, was das Zeug hält. Und zudem sprechen sich einige von ihnen mit Namen an, so dass plötzlich einige simple Farbkleckse oder Liniengewirre doch wiedererkennbar werden und eine Geschichte erzählt wird, deren genaue Wiedergabe hier zu weit führen würde, obwohl sie ja kurz ist. Nur soviel: Es geht um ein italienisches Dorf, dessen Bewohner sich gemeinsam ein Lotterielos kaufen (übrigens noch für Lire statt Euro) und dann Milliardäre werden (mit Lire ging das einigermaßen leicht). Gewisse Ähnlichkeiten im Verlauf mit einer berühmten Donald-Duck-Geschichte von Carl Barks – „Geld fällt vom Himmel“ – erfreuen das Herz des Donaldisten. Wissen muss man das aber nicht. Wer weiß, ob Lutz es wusste?
Warum eine derart konkrete Geschichte abstrakt zeichnen? Lutz erklärt: „Ich fände es viel interessanter, wenn abstrakte Comics eine Geschichte so erzählten, dass der Leser sie decodieren könnte; wenn solche abstrakten Comics in Wirklichkeit Abstraktionen von etwas wären, das in unserer Welt existiert, und das Abstrakte mit dem Konkreten mischten.“ Soll heißen: Ferdinand Lutz will abstrakte Geschichten zeichnen, aber nicht abstrakt erzählen. Worin dann der Reiz besteht? Na, eben in der von ihm erwähnten Decodierung. Sein Comic verlangt nach aufmerksamerer Lektüre als einer, in dem die Figuren und der Handlungsort auf den ersten Blick identifizierbar wären.
Einen Titel hat die witzige und leicht makabre Erzählung übrigens nicht. Aber das Heft hat einen: Es heißt „Libretto 1“. Damit ist es ausgewiesen als erste Folge einer Reihe, die Lutz jährlich mindestens einmal fortsetzen will. Allerdings ist das hübsche komplett farbig gedruckte Büchlein auf hundert Exemplare limitiert, und da es komplett auf Englisch geschrieben ist, vergrößert sich die Zahl potentieller Leser. Wie man allerdings auf so etwas Schönes, jedoch eher Unauffälliges stoßen soll, wenn man nicht vom Zeichner entdeckt und damit beglückt wird, das ist die Frage. Aber die ICOM (Interessengemeinschaft Comic) hat es auch geschafft – und das Heft dann prompt als Besten Kurzcomic des Jahres 2015 ausgezeichnet, obwohl es erst 2016 erschienen ist. Angesichts der kleinen Auflage wird es schwer zu finden sein. Aber glücklicherweise kann man es dank der Preisverleihung im Netz lesen: https://www.kwimbi.de/Kwimbi-Shop/Comics/Libretto-1-Ferdinand-Lutz-ICOM-Preis-Bester-Kurzcomic-2015.html. Wärmste Empfehlung! I Und Augen auf, wenn 2017 hoffentlich „Libretto 2“ erscheint.
Das erinnert doch an was...:
Vielleicht ist er entzückt!
Vielleicht ist er bedrückt!
Vielleicht auch ein bisschen verrückt!
.
(Roboter Rudi, Micky Maus 39/1968)