Comic

Comic

Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Thüringischer Tango

Vor vierzehn Jahren hatte ich einen Lehrauftrag in Jena, vermittelt durch den dortigen Philosophen und Medienwissenschaftler Lambert Wiesing. Als ich das erste Mal in sein Büro kam, staunte ich über die Aquarelle an der Wand: lauter Hugo Pratts. Da waren diese schönen schlaksigen jungen Menschen, wie wir sie aus „Corto Maltese“ kennen – der Titelheld selbst natürlich, Pandora Grosvenor, Kapitän Schlüter (um nur den ersten Band, „Die Südseeballade“, zu nehmen), koloriert in den blassen, aber trotzdem intensivbunten Farben, die Pratt für seine Illustrationen abseits der Comics wählte, und das Ganze auch noch mit eher modernen Figuren. Doch, vor mir hing eine bemerkenswerte, mir zudem komplett unbekannte Suite des schon einige Zeit verstorbenen italienischen Zeichners.

Das überraschte mich, nicht aber, dass in Wiesings Büro überhaupt Comic-Originale hingen. Sein Interesse für Comics, in etlichen Aufsätzen und auch in den Büchern des Philosophen dokumentiert, war der Anlass für unseren Kontakt und mein Semester in Jena. Überrascht war aber er selbst, als ich ihn nach seinen Pratt-Bildern fragte, und hocherfreut war er, als er mir erläuterte, dass es sich dabei um Aquarelle handelte, die seine Frau gezeichnet habe. Ich gratulierte zu dieser Begabung, und ich sehe die Bilder heute noch vor mir. Zwischendurch fragte ich mich bisweilen, warum dieses Können nicht noch anders genutzt würde als für die zweifellos verdienstvolle Dekoration eines Universitätsbüros.

Jetzt weiß ich, warum nicht. Silke Rehberg, die Frau von Lambert Wiesing, zeichnete die ganzen vierzehn Jahre lang an einem Comic. Er heißt „Kalon und Tonio“ und ist nun endlich erschienen. Dass es so lange dauerte, liegt nicht nur an Zeichnerin und Szenarist (zu dem nachher mehr), sondern auch darin, dass der Verlag, bei dem der Band erscheinen sollte, Kult Editionen, nicht ganz zufällig im letzten Jahrzehnt die deutsche Heimat von Pratts „Corto Maltese“, 2015 Insolvenz anmelden musste. Dadurch kamen die Verlagsrechte an „Corto Maltese“ wieder auf den Markt, die sich für den deutschen Sprachraum Schreiber + Leser sicherte, während etwas noch Unbekanntes wie „Kalon und Tonio“ wohl nicht so leicht unterzubringen gewesen wäre, wenn sich nicht zur Fortführung der Reste von Kult Editionen ein neuer Verlag namens Kult Comics gegründet hätte, der unter dem Dach des Leipziger Szenetreffs „Comic Combo“ angesiedelt ist. Und der hielt auch Silke Rehbergs Comic die Treue.

Da ist er also, und wieder ist die zum Verwechseln enge Verwandtschaft mit Pratts Werk nicht zu übersehen. Wobei der Band um die Philosophiedozentin Kalon und den Automechaniker Tonio nicht in der Vergangenheit und auch nicht an exotischen Handlungsorten angesiedelt ist, sondern in der Gegenwart an irgendeiner deutschen Universitätsstadt mit einem Zoo. Und in dessen Terrarium wird gleich zu Beginn des Comics ein nächtlicher Besuchern von den Krokodilen gefressen. Die Geschichte dreht sich dann dadurch, wer der Mann war, was er wollte und wer ihn ins Gehege der Echsen gelockt hat. Die ersten zehn Seiten kann man sich hier ansehen: https://kultcomics.net/leseprobe/Kalon_leseprobe/.

„Krokodile verstehen“ lautet der Name des Bandes innerhalb der Serie „Kalon und Tonio“, als dessen erster Teil das Abenteuer konzipiert ist. So richtig entscheiden für diesen kryptischen Titel mochten sich Rehberg und ihr Szenarist aber nicht, also erweiterten sie ihn um noch einen Zusatz“ „Das Blutgericht der schwimmenden Bestien“. Das klingt nun so marketingmäßig reißerisch, dass man eher an einen EC-Comic aus den Fünfzigern denken möchte, und es passt nicht zur eher leisen, durch die zarte Kolorierung sommerleicht daherkommenden Bilderzählung. Wobei es der zugrundeliegende Kriminalfall durchaus in sich hat.

„Kalon und Tonio“ läuft unter dem Autorennamen Sillá, und wenn man „Sil“ für Silke nimmt, dann bliebe „Lá“ übrig, und der Weg zu Lambert ist nicht weit. Tatsächlich finden sich im Copyright Rehberg und Wiesing als gemeinsame Urheber, und somit haben wir nach Michel Onfray (der das Szenario für eine französische Nietzsche-Comicbiographie geschrieben hat) nun den zweiten prominenten Philosophen als Autor eines Comics. Dass Kalon manche Interessen ihres Erfinders widerspiegelt, ist klar; dass der Grundantrieb für dieses Projekt aber eine tiefe Liebe zur Erzählform des Comics überhaupt ist, merkt man sofort.

Denn Silke Rehberg hat ein höchst komplexes Szenario zu bebildern, das vor allem in den Jump Cuts seine Leser zum Mitdenken zwingt. Häufig liegen unter den (ausgiebig gestalteten) Sprechblasendialogen des in wachsender gegenseitiger Faszination befindlichen Protagonistenpaars reine Stimmungsbilder, die Details aus der Umgebung zum Thema haben oder auch nur Farbschleier. Das wirkt, als wäre hier eine Erzählhaltung aus den psychedelischen siebziger Jahren wiederauferstanden, und ein zweitweiser Handlungsort wie Amsterdam trägt zu dieser Zeitassoziation noch zusätzlich bei. Zugleich präsentiert der Comic eine elegante Lebenswelt, denn Kalon und Tonio begeistern sich beide für alte Sportwagen, leben in geschmackvoll gestalteten Wohnungen und haben auch ein Faible für lässige Mode, so dass nicht nur Pratt hier optisch Pate gestanden hat, sondern auch der Porträtgroßmeister der guten Gesellschaft, Alex Raymond. Dessen Liebe zur akribischen Wiedergabe von realexistierenden Accessoires bürgerlicher Lebensführung hat in „Kalon und Tonio“ erkennbar Schule gemacht.

Es ist denn auch mehr ein optisches als ein erzählerisches Erlebnis, diesen Comic zu lesen. Wohin der Hase läuft, hat man bald heraus, was man dagegen nie weiß, ist, in welche Umgebung und welche Stimmung einen die nächste Seite des Albums entführen wird. Gedruckt ist der Hardcoverband sehr schön, und angesichts von achtzig Seiten Comic sind 22,95 Euro auch gar nicht teuer. Für noch einmal 17 Euro mehr kann man eine limitierte Vorzugsausgabe mit beigegebenem Druck erwerben – auch das ein Relikt aus lange zurückliegenden Jahrzehnten, wie überhaupt das ganze Leseerlebnis mich in eine Zeit entführt hat, die vorbei schien. Corto, Jena, Sportwagen, Amsterdam. Wer sich auf dezidiert eskapistisch-elegante Weise unterhalten lassen will, der sollte diesen Comic lesen. Wer allerdings mit Hugo Pratts Stil nichts anfangen kann, der wäre damit schlecht bedient.