Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Gezeichnete Klangwelten zwischen Orient und Okzident

Gestern saß ich im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin mit einigen Comiczeichnern zusammen, darunter auch solchen, die ich zuvor noch nicht getroffen hatte. Und sogar eine, um deren Werk ich lange einen Bogen gemacht hatte: Zeina Abirached. In Frankreich waren seit 2006 fünf Bände von ihr erschienen, alle im Libanon der achtziger Jahre angesiedelt, der Bürgerkriegszeit, in die Zeina Abirached 1981 hineingeboren worden ist. Es waren mit einer Ausnahme alles autobiographische Comics: streng schwarzweiß und höchst phantasievoll gezeichnet. Geschichten von einem Mädchen, das unter für uns unvorstellbar extremen Bedingungen aufwächst, ehe die junge Frau 2004 nach Frankreich zog, um dort ihr Illustrationsstudium fortzuführen. Warum hatte mich das nicht interessiert?

Weil ich mich beim Aufblättern des vor drei Jahren auch auf Deutsch erschienenen „Das Spiel der Schwalben“ zu sehr an Marjane Satrapi erinnert fühlte. Und beim dann 2014 übersetzten Band „Ich erinnere mich“ wiederholte sich dieser Eindruck. Darüber übersah ich die höchst ungewöhnlichen Elemente von Zeina Abiracheds Arbeiten: vor allem ihren geradezu experimentellen Umgang mit dem Zeichensystem des Comics. Als sie jetzt in Berlin dem vorangegangenen Vortrag des französischen Zeichners Marc-Antoine Mathieu lauschte und danach im Gespräch mit mir erwähnte, dass er eines ihrer großen Vorbilder geworden sei, als sie in den neunziger Jahren im Libanon auf aktuelle französische Comics stieß, wurde mir einiges klar.

Trotzdem habe ich sie gefragt, ob nicht auch Marjane Satrapi zu ihren Einflüssen gehört habe. Zeina Abirached lächelte und meinte, die Frage habe man ihr recht häufig gestellt, aber sie habe die „Persepolis“-Comics der aus Iran nach Frankreich ausgewanderten Zeichnerin erst in Paris kennengelernt, als sie mit den eigenen autobiographischen Comics schon begonnen hatte. Die Bände hätten ihr gut gefallen, und das glaubt man sofort. Aber ich war auch beschämt, dass es offenbar genügt, zwei Zeichnerinnen aus orientalischen Ländern ihre eigenen Jugendgeschichten in Schwarzweiß erzählen zu lassen, um sofort als westlicher Leser zu vermuten, das müsste ja ganz ähnlich ausfallen – nur weil es oberflächlich betrachtet ähnlich aussieht.

Und nun gibt es einen neuen Comic von Zeina Abirached, der nicht einmal mehr aussieht wie „Persepolis“. Er erscheint in dieser Woche im Avant Verlag auf Deutsch und heißt „Piano Oriental“. Die Titelwahl ist phantasielos, weil sie es nicht einmal schafft, aus dem französischen „Le Piano Oriental“ ein „Orientalisches Klavier“ zu machen. Aber die Geschichte ist grandios, auch deshalb, weil Zeina Abirached darin nicht nur ästhetisch, sondern auch erzählerisch neue Wege geht.

Autobiographisch geht es immer noch zu, obwohl der Protagonist des Buchs ein Buchhalter aus Beirut ist, der begeistert Klavier spielt und an einem Instrument tüftelt, das es gestattet, nicht nur die durch die europäisch-traditionelle Tastatur vorgegebenen Halbtöne zu spielen, sondern auch für Vierteltöne geeignet ist, wie sie für orientalische Melodien charakteristisch sind. Diesen Mann gab es wirklich, er war Zeina Abiracheds Urgroßvater, und er hat ein Instrument gebaut, bei dem man durch Pedale die Hämmer anders justieren konnte, so dass während des Spiels ein Übergang von einer zur anderen Spielweise ermöglicht wurde. Diesen Geniestreich wollte eine Wiener Klavierbaufabrik sogar in Serie herstellen, aber dafür hätte es hundert feste Bestellungen gebraucht. Die hat der Erfinder des Instruments nie zusammenbekommen.

Es ist aber keine traurige, sondern eine höchst lebenslustige Geschichte, weil alle Bilder, ja selbst die eingezeichneten Geräusche einem musikalischen Rhythmus folgen. Und verwoben mit der natürlich teilweise fiktionalisierten Geschichte ihres Urgroßvaters aus den späten fünfziger Jahren ist ein Erzählstrang, der von Zeina Abiracheds Aufbruch nach Frankreich im Jahr 2004 erzählt und von ihren Eindrücken dort. Während die Episoden um den Klavier-Erfinder auf weißem Papier wiedergegeben werden, sind die eigenen Erlebnisse mit einem schwarzen Fonds unterlegt – der Schwarzweißwechsel der Klaviatur findet sich also sogar in der Form dieses Comics wieder (Leseprobe unter https://www.avant-verlag.de/comic/piano_oriental).

Zeina Abiracheds Liebe zum Schwarzweiß bekommt zudem eine inhaltliche Rechtfertigung, weil sie von einer Erfahrung aus ihrer Kindheit erzählt: In Beirut wurden Videorekorder mit amerikanischem Abspielsystem ausgeliefert; die Videokassetten, die die frankophile Familie Abirached aber besaß, enthielten nur französische Filme, die im europäischen System hätten abgespielt werden müssen. Bei der Wiedergabe waren darum alle Filme schwarzweiß. Zeina Abirached erklärt, dass der Klang der französischen Sprache für sie deshalb schwarzweiß war. Und da sie die französische Sprache mehr liebte als die arabische (mit der Dinge verboten oder von ihr verlangt wurden), hat sich diese Liebe wohl auf ihre Zeichnungen übertragen. Sie gedenkt jedenfalls nach eigener Auskunft nicht, irgendwann einmal farbig zu zeichnen.

Das orientalische Klavier ihres Urgroßvaters ist die perfekte Metapher für die eigene Existenz der Zeichnerin zwischen beiden Welten: der orientalischen und der okzidentalen. Auch sie wechselt in ihrer Kunst ständig dazwischen hin und her, und so ist „Piano Oriental“ eine große Selbsterklärung und eine Stellungnahme gegen die kulturelle Abgrenzung zugleich. Dass die Comics von David B. und Killoffer weitere wichtige Einflüsse für Zeina Abiracheds Schaffen sind, sieht man dem Band aufs Schönste und zugleich Unaufdringlichste an. Plötzlich meine ich, in ihm so ziemlich alles Gute zu finden, was ich mir von Comics erhoffe; nichts stört mehr. Seine 210 Seiten lesen sich selbst auf Französisch wunderbar leicht und witzig, die deutsche Übersetzung ist trotz dem missratenen Titel prägnant, und man hat sich bei Avant sogar die Mühe gemacht, die teilweise sehr aufwendige Integration von geschriebenen Worten in die Bildkompositionen auf Deutsch zu bewahren. Dass es auch jene große Ausklappseite des Originals gibt, auf der Zeina Abirached ein stimmig gezeichnetes Äquivalent für den Klang des orientalischen Klaviers findet, versteht sich von selbst.