Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Der richtige Erbe

Als vor sechs Jahren bei Carlsen der Spirou-Extraband „Operation Fledermaus“ herauskam, lernte ich das Staunen neu. Von Yann, dem Szenaristen des Bandes, hatte ich schon lange eine hohe Meinung, aber dass es in Frankreich einen Zeichner namens Olivier Schwartz gab, der den Zeichenstil der Nouvelle Ligne Claire noch derart beherrschte, das war mir unbekannt. Hätte ich die Seiten ohne Wissen um den Urheber gesehen, hätte ich auf eine wiederaufgetauchte Arbeit von Yves Chaland getippt, dem 1990 tödlich verunglückten Star dieses Stils, eines meiner absoluten Lieblingszeichner. Niemand imitiert dessen ebenso nostalgischen wie schwungvollen Strich so perfekt wie Olivier Schwartz.

„Operation Fledermaus“ heißt im französischen Original „Le Groom vert-de-gris“, und das war eines jener vielen Projekte, die Chaland aus Begeisterung für eine Figur begonnen, aber nie beendet hatte. Es existieren ein skizziertes Skript und ein paar ausgearbeitete Seiten, aber die Genehmigung, diese im Zweiten Weltkrieg angesiedelte Geschichte um den belgischen Comic-Heroen Spirou zu erzählen, bekam Chaland nicht. Fast zwanzig Jahre nach seinem Tod besann man sich eines Besseren, zumal Chaland immer mehr zur Legende geworden war; Yann stellte deshalb die Geschichte fertig, und Schwartz zeichnete sie. Und ich bewunderte einen Künstler, der für mich aus dem Nichts heraus die Opulenz und den Witz des Retroc-Charmes der achtziger Jahre wiederbelebte.

Dabei war der 1963 geborene Schwartz damals schon Teil der Nouvelle Ligne Claire gewesen, nur hatte das jenseits der französischen Grenzen niemand bemerkt. Denn seine erfolgreichste Serie, „Inspektor Bayard“, wurde seit 1988 in einem alle zwei Monate erscheinenden Kindermagazin namens „Astrapi“ publiziert, und die insgesamt achtzehn Alben, die sämtliche Episoden nachdruckten, wurden auch nicht bei einem der großen frankobelgischen Häuser publiziert, sondern bei dem Verlag, der „Astrapi“ herausbringt: Bayard, der dem Helden auch seinen Namen gegeben hatte. Anfangs waren dessen Abenteuer als Rätselkrimis konzipierte Kurzepisoden von drei oder vier Seiten: Auf zwei oder drei davon wird ein Verbrechen beschrieben, das von Inspektor Bayard aufgeklärt werden muss, die letzte Seite bringt dann die Auflösung, die den Lesern bei aufmerksamer Lektüre schon vorher durch kleine Hinweise nahegelegt worden war. Schwartz ließ sich die Geschichten zunächst von wechselnden Szenaristen schreiben, fand nach zwei Jahren in Jean-Louis Fonteneau aber seinen dauerhaften Partner. Nach einigen Jahren erzählte das Duo auch albenlange Geschichten, die aber immer noch das Rätselelement beibehielten.

Das Zielpublikum von „Astrapi“ hat ein Alter von sieben bis elf Jahren, entsprechend harmlos sind die Geschichten, wobei man bisweilen schon sehr genau hinsehen muss, um die Hinweise auf die Lösung zu finden. Ein deutschsprachiges Äquivalent zu der Zeitschrift existiert nicht, und Kindercomics werden hierzulande eher als Hefte oder Bilerbücher, jedenfalls selten als Alben veröffentlicht. Deshalb ist „Inspektor Bayard“ bislang nie über die Grenzen gelangt. Aber mit dem Erfolg, den Olivier Schwartz mit „Operation Fledermaus“ hatte und dem er ein weiteres Spirou-Abenteuer („Die Leopardenfrau“) und den semifiktionalen Band „Gringos Locos“ folgen ließ, hat sein deutscher Verlag Carlsen jetzt auch das Risiko gewagt, „Inspektor Bayard“ auf Deutsch herauzubringen, allerdings bezeichnenderweise nicht im Albenformat, sondern etwas kleiner, dafür aber fast hundert Seiten stark, denn man hat die ersten beiden „Bayard“-Alben von 1993 zusammengefasst und noch fünfzehn Seiten Bonusmaterial angehängt.

Das wiederum hat man der in Frankreich seit vergangenem Jahr erscheinenen „Intégrale“-Ausgabe entnommen: einem Nachdruck, der jeweils vier Alben zu einem opulenten und reich kommentierten Hardcoverband zusammenfasst. Warum man nicht einfach diese Bände übersetzt, ist ein Rätsel, aber vermutlich glaubt man bei Carlsen nicht daran, Kindercomics für knapp dreißig Euro verkauft zu bekommen; die nun gestartete halb so dicke Serie kostet pro Band nur 13 Euro. Aber gleichzeitig hat das wohl niemand dem Übersetzer gesagt, denn im Zusatzmaterial der deutschen Ausgabe wird auf ein Bild auf Seite 171 verwiesen – die es natürlich gar nicht gibt. Redaktionell wurde die Ausgabe also sehr leblos betreut, zumal der Sprachstil der Übersetzung gerade im Anhang grässlich ist. Nur ein Beispiel aus einer Bildunterschrift zu einem ungedruckt gebliebenen Umschlagentwurf: „Wegen des Blutes wird es verworfen. Olivier Schwartz verwandelt darauf den Leichnam in einen riesigen Bücherstapel. Natürlich in Inspektor Bayards Comics, als Werk im Werk und Ankündigung von vielen zu erwartenden Alben.“ Man hört bis in die Satzstellung hinein das französische Original, aber flüssiges Deutsch ist das nicht. Und was soll die Bezeichnung „unveröffentlicht, erschienen in ‚Astrapi’“ über drei angehängten Extra-Geschichten bedeuten? Ganz einfach: unveröffentlicht in der ersten französische Albenausgabe, aber natürlich nicht generell unveröffentlicht. Irgendwer hätte bei Carlsen noch mal einen Blick auf diesen Comic werfen sollen, bevor man ihn drucken ließ.

Wobei das die graphische Qualität der Schwartzschen Geschichten nicht mindert. Sie sind eine Augenfreude für jeden, der die Nouvelle Ligne Claire liebt. Schwartz bringt eine Fülle von Anspielungen an seine Vorbilder unter, am massivsten in den Coverzeichnungen der Alben. Auf derjenigen, die nun auch die deutsche Ausgabe schmückt, steht Bayard auf dem Fenstersims eines Hotels, dessen Name gerade noch identifizierbar ist: „Moustique“, jenes Haus also, in dem Spirou arbeitet (und in dem „Operation Fledermaus“ größtenteils spielt). Die beiden nächsten Alben sind bis in die Posen der agierenden Figuren von Chaland-Covern inspiriert – Schwartz macht sich einen großen Spaß aus solchen Hommagen, und keinem anderen Comic ist „Inspektor Bayard“ so nahe wie Chalands „Freddy Lombard“, gerade auch in der optischen Gestaltung des Helden.

So ist diese Serie das für mich lange Zeit vermisste Bindeglied zwischen den Klassikern und dem Newcomer Olivier Schwartz (der dann ja gar nicht so neu war, wie ich lange dachte). Nur darf man nicht die üblichen Maßstäbe an die Handlungen anlegen. Wenn man aber das Kindliche dran akzeptiert und auch als heute ungewohnte Fortsetzung der schlichten Moral von Comics aus den fünfziger Jahren versteht, dann ist „Inspektor Bayard“ mehr als nur ein guilty pleasure. Und vielleicht gibt sich Carlsen bei hoffentlich noch weiteren Bänden etwas mehr Mühe. Denn es werden wohl doch überwiegend Erwachsene sein, die sich für die neue alte Serie begeistern werden – solche wie ich, die in den achtziger Jahren gelernt haben, was anspruchsvolle Comics sein können.