Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Bhagwan-Berlin

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Wer schon zwei Jahre nach einem umfangreichen Comicalbum eine genauso umfangreiche Fortsetzung folgen lässt, der hat etwas Großes vor. Zumal wenn der erste Band, „Gleisdreieck“, den Untertitel „Berlin 1981“ trägt und nun unter dem neuen Band „Westend“ steht: Berlin 1983“. Da zeigt sich ein Programm, das der Szenarist Jörg Ulbert und der Zeichner Jörg Mailliet gemeinsam verfolgen, und man darf nur hoffen, dass es in der Chronologie noch weiter gehen wird (die Abfolge darf übrigens gern noch dichter werden; warum denn ein Jahr überspringen?).

Ob es allerdings über die achtziger Jahre hinausgehen kann, ins wiedervereinigte Berlin hinein, darf man bezweifeln, denn zu bedeutsam ist die spezifische Insel-Lage West-Berlins für die Geschichten, die Ulbert erzählt. Das war schon beim ersten Band so, der wie auch nun der zweite zunächst für den französischen Comicmarkt geschrieben wurde, und zwar jeweils unter dem Titel „Le Théorème de de Karinthy“. Was diese rätselhafte Bezeichnung bedeutet, habe ich schon vor zwei Jahren an dieser Stelle in meiner Würdigung der französischen Originalsaugabe erklärt (https://blogs.faz.net/comic/2014/04/07/zeitreise-den-berliner-terrorismus-488/), und immer noch gilt, dass die Stimmung in der Westhälfte der geteilten Stadt das zentrale ästhetische Motiv dieses Comics ist: die Isolation, das heruntergekommene Stadtbild, die quicklebendige Untergrund-Kultur in Politik wie Nachtleben, kurz: das ganze Lebensgefühl in West-Berlin. Diesmal ist der deutsche BerlinStory-Verlag den französischen Kollegen von „Des ronds dans l’O“ bei der Publikation aber zuvorgekommen. Eine Leseprobe bieten sie nicht an, aber das französische Amazon (https://www.amazon.fr/Westend-Berlin-1983-J%C3%B6rg-Ulbert/dp/3957230985/ref=sr_1_cc_2?s=aps&ie=UTF8&qid=1479115703&sr=1-2-catcorr&keywords=J%C3%B6rg+Ulbert) bietet ein paar Seiten aus der deutschen Fassung für ungeduldige Leser im Nachbarlan. Bestellen kann man es dann ja im normalen Buchhandel …

Einige der Hauptfiguren aus „Gleisdreieck“, der seinen Gegenstand im Linksterrorismus und den Infiltrationen dieser Szene durch die Polizei und Geheimdienste gefunden hatte, stehen nun wieder im Mittelpunkt, vor allem der untersetze Otto, der mittlerweile den Weg vom Linksextremismus zur Esoterik gegangen hat und seine Spitzeldienste in der Gemeinde des indischen Predigers Bhagwan leistet. Manch einer täuscht sich in ihm, denn in den violetten Gewändern und  dem scheinbar ungelenken Körper steckt ein im wörtliche Sinne schlagkräftiger Mann. Im Auftrag des beim Bundeskriminalamt beschäftigten Ermittler-Veteranen Friedrich Wittin bemüht sich Otto, dem abgetauchten Sohn eines Berliner Kammerrichters auf die Spur zu kommen, der diesen diskreten Hilfsdienst dann mit wohlgefälligem Verhalten im Gerichtssaal belohnen will. Denn dort steht ein Urteil über die Aktivitäten verdeckter Ermittler des Berliner Verfassungsschutzes an – eine Behörde, mit der Wittin und sein Amt in dieser Sache über Kreuz liegen. Die Staatsorgane arbeiten also jeweils mit dubiosen Tricks gegeneinander.

Ulbert und Mailliet haben ihren fiktiven Fall wieder mitten ins historische Zeitgeschehen verlegt, denn diese Gerichtsverhandlungen gegen V-Leute hat es im Berlin der siebziger und achtziger Jahre immer wieder gegeben – und ganz geklärt wurden die ihnen zur Last gelegten Morde und Mitwisserschaften darum nie. Das macht wie schon in Band 1 die politische Komponente auch im zweiten Teil der „Berlin“-Serie aus. Man staunt, wie intensiv die beiden heute in Frankreich lebenden Autoren, die allerdings beide das Berlin jener Jahre erlebt haben, für diese Hintergründe recherchiert haben. Und dadurch, dass Mailliet in seinen Panels wieder eine Straßenszene nach der anderen höchst ortsgetreu ins Bild setzt, erreicht auch dieser Band wieder eine Authentizität, die im Comic nicht alltäglich ist.

Die Geschichte verlangt Aufmerksamkeit, um den vielfachen Wendungen gerecht zu werden, und auch die Seitenarchitektur ist höchst ausgefuchst, denn auch wenn alles in Panels unterteilt ist, ziehen sich etliche Bilder doch über mehrere davon hin, so dass man erst in der Gesamtschau der Seite das eigentliche Bild erklärt. Köpfe, die halb angeschnitten rechts am Bildrand stehen, werden dann im Folgebild links um die fehlende Hälfte ergänzt, und alle solchen optischen Tricks dienen nicht einem Spektakel, sondern haben inhaltliche Notwendigkeit – sei es, dass etwas im Hintergrund passiert, was die Verschiebung des Fokus erfordert, sei es, dass gerade in einem Bild nicht gezeigt werden soll, was gerade geschieht, weshalb sich die Perspektive ändern muss. Einzig die Farben sind nach wie vor gewöhnungsbedürftig: der Stimmung entsprechende abgeschattete matte Farben, die zu sehr die Computerkolorierung erkennen lassen, unter der dann der penible Strich von Mailliet verschwindet, den man auf den in Schwarzweiß gehaltenen Kapitelvorsatzzeichnungen noch so schön erkennen kann.

Doch was da alles aus den Kulissen gezerrt wird, gleicht solche kleinen Mängel aus: Man erfährt, was die Bhagwan-Sekte und die Gäste in deren Diskotheken für Interessen verfolgten (wobei die Pauschalierung der Aussagen darüber nicht mit meiner eigenen Erfahrung als Mitte der achtziger Jahre einigermaßen regelmäßiger Besucher der Kölner Bhagwan-Disco übereinstimmt, aber gerade dass plötzlich auch andere Facetten einer vertraut scheinenden Institution plausibel werden, zeigt die Stärke der Recherche, die in „Westend“ eingeflossen ist). Und die dubiosen Praktiken von Anwälten, Ermittlern, Spontis und Kriminellen erscheinen hier als so ununterscheidbar, wie sie es damals wohl auch tatsächlich gewesen sind. Die Benennungen der Einzelbände nach Berliner S-Bahnhöfen lässt noch viele Optionen offen. Hoffen wir, dass Ulbert und Mailliet das Streckennetz Stück für Stück komplettieren.

 


1 Lesermeinung

  1. HaraldLeinweber sagt:

    V-Leute und Morde
    Wer sich noch etwas in die Geschichte des Westberliner Untergrunds der späten 70er und frühen 80er Jahre vertiefen möchte, dem sei der Name Ulrich Schmücker und der damit im Zusammenhang stehende “Schmücker-Prozess” als Einstieg in die Wikipedia-Artikel zum Thema empfohlen.

    Vielen mögen die Mescaleros, umherschweifenden Haschrebellen und andere StadtIndianer ja farbig und exotisch vorgekommen sein – manchmal wurde es dann aber auch richtig ernst.

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