Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Zum guten Schluss ein richtig gutes Buch

Gesetzt den Fall, Sie suchten noch nach einem eiligen Geschenk und hätten eine gute, eine wirklich gute Buchhandlung in der Nähe (oder meinethalben auch einen höchst flotten Lieferservice, aber natürlich sollte man gute Bücher nur in guten Buchhandlungen kaufen), dann kaufen Sie Richard McGuires Buch „Erzählende Bilder“. Erschienen ist es beim Dumont Verlag, der im Vorjahr schon McGuires epochemachenden Comic „Hier“ herausgebracht hat. Wenn Sie aber „Hier“ kennen sollten, dann werden Sie doppelt überrascht sein, was der neue Band bietet. Erst einmal viel weniger Opulenz. Und dann keine Geschichte, die sich wie „Hier“ über Jahrmilliarden erstreckt, sondern viele kleine Erzählungen, die bisweilen nur Sekunden umfassen. Und übrigens auch in Sekundenschnelle zu lesen sind.

Für dieses Buch von fast sechshundert Seiten brauchen Sie keine halbe Stunde Lesezeit. Aber Sie werden jahrelang immer wieder daran Spaß haben, denn viel klüger kann man gar nicht zeichnend erzählen. Und eben auch nicht kürzer. Denn Texte gibt es nicht, alles wird stumm erzählt, in ein paar schlichten Bildern, schwarzweißen Vignetten, deren Zusammengehörigkeit sich bisweilen gar nicht auf den ersten Blick erschließt. Denn alle stammen aus dem „New Yorker“, dem Gralshüter der Zeitschriftenillustrationskunst, für den der in New York lebende McGuire in den letzten zwanzig Jahren immer wieder Titelblätter gezeichnet hat. Aber eben auch die hier versammelten Bildergeschichten, die aber nicht als zusammengehörige Sequenzen abgedruckt wurden, sondern als Einzelbilder über ein ganzes Heft gestreut. Diese kleinen Platzfüller machten den Betrachtern auch isoliert Vergnügen, aber ihre wahre Kraft erweisen sie erst im Zusammenhang mit der jeweils über ein Heft erzählten Geschichte.

McGuire ist ein Souverän der Ikonographie, und seine Linie ist eine der klarsten auf der ganzen Welt. Zusammengenommen ergeben diese beiden Eigenschaften eine Piktogrammkunst, die mit minimalen Mitteln große Wirkung erzielt. Aus banalen Gegenständen wie den Toilette-Artikeln eines Badezimmers oder einem Straßenensemble aus Briefkasten, Parkuhr und Abfalleimer macht McGuire handelnde Personen, die aber nicht anthropomorphisiert werden, sondern durch geschickte Variation und Kombination eine lebendige Anmutung erhalten. Eine von einem Auto gerammte Parkuhr etwa wird schon durch die Krümmung zur schmerzgebeugten Persönlichkeit, und eine Zahnbürste kann durchaus geschwätzig aussehen, wenn man nur sehr genau weiß, was gängige graphische Attribute für Geschwätzigkeit sind. McGuire hat das alles parat. Wenn Sie’s überprüfen wollen, müssen Sie es allerdings anhand der amerikanischen Ausgabe tun (https://insight.randomhouse.com/widget/v4/?width=600&height=860&isbn=9781101871591&shortCode=&author=Richard%20McGuire&title=Sequential%20Drawings&refererURL=www.penguinrandomhouse.com), denn Dumont schenkt sich eine Leseprobe. Ist aber auch egal, weil es ja außer einer Einleitung gar keinen Text gibt.

Es ist so geist- und so geschmackvoll, dass man nach der halben Stunde Lektüre (die Hälfte der fast sechshundert Seiten ist blank gelassen; das ist ein etwas manieriertes Kunstprinzip, das aber seinen Ursprung in der amerikanischen Originalausgabe hat und also McGuires Willen folgt) gleich wieder von vorne anfängt, weil man mit der nun gewonnenen Erfahrung einige weniger eindeutige Zusammenhänge nun besser verstehen wird. Und wenn man noch ein schönes Silvesterspiel sucht, dann kaufe man einfach mehrere dieser 25 Euro kostenden Bücher und lasse jede Person einzeln lesen und dann die Deutung der jeweiligen Episode vergleichen. Das geht natürlich auch mit Kopien, aber das Buch ist als Objekt allein schon so schön, dass man es nicht anders haben möchte. Wenn Sie es tatsächlich im Buchhandel suchen sollten: Es ist klein und weiß und dick, und vorne drauf steht kein Wort, sondern man sieht nur drei gezeichnete Büroklammern, zwei normale und eine zu Blütenform entfaltete. So etwas macht glücklich. Schöne Feiertage und ein gutes neue Jahr!