So realistisch alles darin ist, handelt es sich bei dem Comic „Freedom Hospital“ des syrischen Zeichners Hamid Sulaiman doch um eine Fiktion. Den Ort Houria in Syrien, in dem die Handlung stattfindet, gibt es nicht, aber leider existieren eine Menge Kleinstädte, die sein Schicksal teilen: Nachdem sich die Opposition 2011 gegen das Assad-Regime erhob und weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle brachte, setzte die Armee schwere Waffen gegen die Zentren der Rebellion ein und hinterließ Trümmerwüsten. So auch im fiktiven Houria.
Doch dort gibt es einen Hoffnungsschimmer: das titelgebende Freedom Hospital, ein Krankenhaus, das von drei Einheimischen betrieben wird: der jungen Pharmazeutin Yasmin und den beiden Medizinern Fawaz und Dr. Yazan. Angesichts der dauernden Kampfhandlungen und des ständigen Bombardements kommen viele Patienten, und die Operationen finden unter archaischen bedingungen statt,. teilweise direkt auf der Straße, ohne jede Betäubung. Sulaiman nimmt keine Rücksichten auf Empfindlichkeiten der Leser, wenn er eine Amputation zeichnet, und das satte Schwarz seiner Tusche ist nur passend für die düstere Welt, in die er uns führt.
Er kennt sie nur zu gut. 2011 gehörte er selbst zur Opposition, floh aber nach den ersten Exzessen des Regimes nach Paris. Etliche seiner alten Freunde sind in Syrien gestorben, ihre Schicksale sind in einzelne Figuren eingegangen. In „Freedom Hospital“ versammelt er im Mikrokosmos von Houria einen Querschnitt durch die syrische Gesellschaft: Sunniten, Schiiten, Alawiten, Christen, Kurden, Araber, Frauen, Männer, Regimetreue und -gegner. Und als Beobachterin eine syrischstämmige Französin, die einen Dokumentarfilm über das Krankenhaus im Bürgerkrieg dreht. Sie ist unser Bezugspunkt, denn auch ihr müssen die wechselnden Loyalitäten und Weltanschauungen erklärt werden. Und das tägliche Leben unter Todesdrohung.
Sulaiman arbeitet mit einfachen Mitteln, die aber umso eindrucksvoller wirken (eine deutsche Leseprobe des heute erscheinenden Buchs gibt es noch nicht, deshalb hier die französische: https://www.caetla.fr/IMG/pdf/freedom_hospital-extrait.pdf). Der Strich ist nicht subtil, aber expressiv, Sulaimans Schattentechnik verdankt sich dem Vorbild von Frank Millers „Sin City“, aber bei ihm gibt es keinen Zynismus. Bei den Figuren schon, das gehört zu einzelnen Persönlichkeiten, aber in Sulaimans Geschichte spürt man das Leiden an seinem eigenen Land aus jedem Dialog. Und auch aus den lapidaren Datumsangaben, die sich über das eine Jahr der Handlungszeit ziehen. Im März 2012 geht es los, „40.000 Opfer seit Beginn der Revolution“. Und dann immer so weiter: „Ein paar Tage und 150 Opfer später“, „Zwei Tage und 472 Opfer später“, „Eine Woche und 450 Opfer später“ bis zu „Zehn Stunden und 37 Opfer später“ und schließlich „ Der Monate und 12.469 Opfer später“. Die Zeitangaben schneiden ins Geschehen, sie schlagen aus wie die Amplituden eines Seismographen. Und die Erschütterungen sind stark.
Es ist eine Geschichte von Verrat, aber nicht der Art, wie wir ihn gewöhnt sind, eines perfiden, von Beginn an geplanten Verrats, sondern eines Doppelspiels, das sich mehr aus Zufall ergibt und bei dem das Böse auch auf der guten Seite stehen könnte – und umgekehrt. Moralisch integer sind allein die unbeirrbaren Betreiber des Freedom Hospitals, und sie werden dafür einen hohen Preis zahlen. Am Schluss ist einer tot, einer verkrüppelt, und doch geht es weiter, denn die Mitmenschlichkeit wollen sie sich nicht austreiben lassen.
Der Einblick in die syrischen Alltagszustände ist entsetzlich, und der Comic lässt keinen Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit. Ja, Sulaiman steht eindeutig auf Seiten der Opposition, aber er zeigt auch deren Zwiespältigkeit, die üblen Kompromisse, das Abdriften in radikale Gruppen, den Machtrausch, wenn ein ehemaliger Taxifahrer sich dem IS anschließt und sich selbst zum Prinzen der Stadt erhebt, von dessen Willkür alle abhängen. Und beide Seiten kämpfen mit russischen Waffen, die Sulaiman gerne isoliert ins Bild rückt, jeweils mit Typenbezeichnung. Die schweren gehören allerdings alle den Truppen des Regimes. Nur einmal gibt es einen Angriff der westlichen Allianz, die zeitweise Flugzeuge zur Kontrolle des Luftraums gegen Assad einsetzte, und da stammen die Waffen aus Frankreich und den Vereinigten Staaten. Aber sonst ist Russland die Waffenschmiede des syrischen Bürgerkriegs.
Hamid Sulaiman lebt immer noch in Paris, und dass er in Frankreich zum Comic fand, ist wenig überraschend. Dass „Freedom Hospital“ für die Franzosen hochinteressant sein muss, die als ehemalige Mandatsmacht traditionell größtes Interesse an Syrien haben, ist klar, dass aber ein deutscher Verlag, und dann auch noch Hanser Berlin (die damit ebenso ihr Comicdebüt geben wie Sulaiman), den fast dreihundert Seiten dicken Band so rasch übersetzen ließ, das ist eine Überraschung. Aber wenn er dazu beiträgt, dass wir noch mehr Abscheu vor der Grausamkeit der Kriegsführung in Syrien entwickeln und noch mehr Mitgefühl für diejenigen, die dem Schlachten entkommen sind, dann gat es sich schon gelohnt. Der moderate Optimismus, den Sulaiman am Ende walten lässt, dürfte nach den Ereignissen der letzten Wochen wohl auch als fiktiv gelten. In der zentralen Parabel, die sich immer wieder durch die Gespräche der Protagonisten zieht, besteht die Pointe darin, dass darauf vertraut wird, dass von drei Beteiligten schon einer rechtzeitig sterben wird. In Syrien aber stirbt gerade alles, und die Hoffnung nicht einmal zuletzt.