Vor sechs Jahren erschien „Israel verstehen – in sechzig Tagen oder weniger“ und machte Sarah Glidden berühmt. Die 1980 geborene Amerikanerin hatte an einer der vom israelischen Staat finanzierten Propagandareisen für junge jüdische Amerikaner teilgenommen und darüber einen so leisen, nachdenklichen, zugleich aber auch witzigen Comic angefertigt, dass zumindest ich darin eine neue Dimension der gezeichneten Reportage sah – nicht so besessen von politischer Mission und Kampf gegen Ungerechtigkeit wie Joe Sacco, auch nicht so graphisch einfallsreich, aber dadurch bisweilen verspielt wie die Reportagecomics der französischen Zeichnergruppe von „L’Association“ oder Art Spiegelmans. Auf Deutsch kam „Israel verstehen“ bei Panini heraus, einem weitgehend auf Superhelden spezialisierten Haus; die literarischen Comicverlage hatten den Band einfach verpasst.
Diese Scharte will der Reprodukt Verlag nun dadurch auswetzen, dass er das nächste Buch von Sarah Glidden an Land gezogen hat: „Im Schatten des Krieges“ (https://www.reprodukt.com/produkt/graphicnovels/im-schatten-des-krieges-reportagen-aus-syrien-irak-und-der-turkei/) heißt es und besteht laut Untertitel aus „Reportagen aus Syrien, dem Irak und der Türkei“. Das ist halbgeschwindelt, denn auf fast dreihundert Seiten wird nur eine einzige Reportage geboten, die allerdings tatsächlich in den genannten drei Ländern entstanden ist, jedoch auch Stationen in den Vereinigten Staaten umfasst und nicht, wie man meinen könnte, vom aktuellen Krieg im Nahen Osten erzählt, sondern darüber, wie man als Amerikaner über die dortigen Zustände berichten kann. Der Krieg, in dessen Schatten sich das alles abspielt, ist der zum Zeitpunkt des Besuchs von Sarah Glidden längst offiziell beendete („Mission accomplished!“) zweite Irak-Krieg. Aber Schatten warf er natürlich über sein Ende hinaus.
Die insgesamt zweimonatige Reise, die Glidden mit einer befreundeten Journalistentruppe aus Seattle in den Nahen Osten unternahm, fand 2010 statt, also noch vor Erschienen von „Israel verstehen“. Dass ein Reportagecomic mehrere Jahre Arbeit erfordert, wissen wir durch Joe Saccos Werk. Dass dies der Qualität und auch der Aktualität seines Inhalts keineswegs abträglich sein muss, auch. Aber dafür bedarf es eines Blicks im und als Comic, der etwas leistet, das Fernseh-, Rundfunk- oder Printreporter nicht liefern. Um es vorwegzunehmen: Über diesen Blick verfügt Sarah Glidden diesmal nicht.
Denn sie interessiert sich nicht vorrangig für das, was ihr in den fremden Ländern begegnet, sondern für das, was sie aus Amerika dorthin mitgebracht hat: ihre Kollegen. Es ist eine Reportage-Comicreportage, die von Finanzierung, Planung, Arbeitsbedingungen und Ergebnissen der Beteiligten erzählt. Das hat man alles noch nicht so gelesen. Aber angesichts dessen, worüber die Reporter berichten wollen, verblasst die Relevanz der Frage, wie und warum sie das tun wollen. Sie steht aber konsequent im Mittelpunkt des Geschehens. Und so werden einem die Beteiligten dieser Reise immer unsympathischer, und an ihre Neugier mag man kaum mehr glauben. Es ist Geltungsgier, die man hier ungeachtet aller anderslautenden Bemerkungen erkennt.
Die Vorstellungen dieser jungen Leute von Journalismus sind bizarr: Ihre Unabhängigkeit als Berichterstatter halten sie dann für gefährdet, wenn sie einem notleidenden Menschen, der ihnen begegnet, etwas Geld zustecken würden – nicht als Bezahlung für ein Statement wohlgemerkt, als Almosen. Abgesehen von der Kaltherzigkeit dieses Berufsverständnisses, ist es auch strohdumm in einer Region, in der das Almosengeben zum Alltag gehört und als Ausweis zivilisierten Verhaltens gilt. Die Borniertheit dieser angeblich so gut auf den Nahen Osten vorbereiteten Amerikaner ist geradezu erschreckend. Wenn sie sich dauernd Sorgen darüber machen, aus welchen unzuverlässigen Quellen sich ihre Landsleute über die arabische Welt informieren, dann sind meine Sorgen diesbezüglich nun noch größer, denn aus den zwei Monaten Aufenthalt sind immerhin vierzehn geschriebene Reportagen geworden. Und dann auch noch die gezeichnete von Sarah Glidden.
Publiziert wurden sie größtenteils auf einer Website, die ehemals „Common Language Project“ hieß, dann aber in „Seattle Globalist“ (https://www.seattleglobalist.com/) umbenannt wurde – man mochte schon gerne etwas Größeres sein, und es klingt natürlich auch viel besser. Dass aber dann diese Globalisierungsgewinner Sarah Glidden gebeten haben, auch im Comic, der ja zu einer Zeit spielt, wo die Website noch hieß wie ein linguistisches Forschungsvorhaben, schon den erst später entstandenen Namen zu verwenden, das wirft ein seltsames Licht auf die Integrität ihres Authentizitätsverständnisses. Die erhoffte Werbung durch den Comic ist wichtiger als die Wahrheit darin.
So ist „Im Schatten des Krieges“ eine echte Enttäuschung, obwohl man den Band durchaus mit Interesse liest. Denn es gibt auch Dan, einen früheren Mitbewohner der Wortführerin unter den erst vier-, dann fünf Reisenden, der nur deshalb mitfährt, weil er als amerikanischer Soldat im Irak-Krieg eingesetzt war. Von der Rückkehr dieses jungen Veteranen verspricht sich das „Common Language Project“ eine fulminante Story: über Dan, der von seinen Erinnerungen eingeholt wird, und über die Iraker, die auf einen Mann treffen, der ihr Land mit Krieg überzogen hat. Das geht schief, weil Dan überhaupt keine Belastung durch seine Erinnerungen verspürt, und es gar nicht tief genug in den Irak hinein geht, um auf Menschen zu treffen, die auf Amerikaner sauer wären. Im vor sieben Jahren noch einigermaßen sicheren Kurdengebiet im Norden des Landes wird Dan vielmehr erfreut als Befreier begrüßt.
Immer wieder versucht die Chefin der Gruppe, etwas Provozierendes aus Dan herauszukitzeln – manipulativer Journalismus der anderen Art. Hier wird nicht beobachtet, sondern inszeniert. Nun könnte man sagen, dass Sarah Glidden doch selbst wiederum eine wunderbare Beobachtung dieser obskuren Methoden geleistet hätte. Aber da es reflexive Passagen in diesem Comic gibt, die sich immer wieder um das Selbstverständnis des Journalismus drehen, hätte sie irgendwo ein Zeichen setzen müssen, dass sie die Problematik überhaupt erkennt. Es kommt nicht. Stattdessen gehen Sarah Glidden und die Wortführerin auf der Schlussseite in der amerikanischen Vorstadt spazieren, und kommen zu dem Schluss, dass es bei den Lesern liegen müsse, „wie sie diese Story nutzen, um sich die Welt zu erschließen“. Damit wird dann der letzte Rest an Verantwortungsgefühl abgestreift, solange man nur selbst glaubt, dass es besser sei, eine bestimmte Story in die Welt zu setzen, als es nicht zu tun. „Aber ich finde, Journalismus darf nicht zum Ziel haben, Änderungen zu bewirken“, wurde kurz zuvor noch gesagt. Was ist dann aber das Kriterium für „besser“? Die Journalisten bei Sarah Glidden schwafeln. Und leider lässt die Comicreporterin ihnen den Raum dafür. Panini hat gut daran getan, Reprodukt die Rechte an diesem zweiten Glidden-Comic zu überlassen. Oder Reprodukt hat schlecht daran getan, Panini oder wen auch sonst zu überbieten.