Litauen ist in der kommenden Woche Gastland der Leipziger Buchmesse. Die Leipziger Buchmesse ist berühmt für ihre Manga Comic Convention, die größte Veranstaltung zum Thema Comic im deutschsprachigen Raum. Wie aber steht es um Comics aus Litauen? Darf man vom Gast erwarten, dass er graphische Literatur mitbringt, wie es im kommenden Herbst im Falle Frankreichs überreich der Fall sein wird, wenn die Frankfurter Buchmesse dieses Land zum Schwerpunkt hat?
Allzu gut stehen die Chancen nicht, dass wir litauische Comics zu sehen bekommen. Es gab auch bislang keinen mir bekannten intensiven Austausch zwischen deutschen und litauischen Zeichnern – ganz anders als im Falle Lettlands, wo die extrem ambitionierte kleinformatige Anthologie „Kus“ erscheint, in der immer wieder deutsche Künstler vertreten sind, im vergangenen Jahr etwa Max Baitinger und Paula Bulling. Aber dann schickte mir der in Litauen lehrende Historiker und Kulturwissenschaftler Felix Ackermann einen Band, den er bei einem 2013 durchgeführten Workshop an der Europäischen Humanistischen Universität, die in der litauischen Hauptstadt Wilna angesiedelt ist, gemeinsam mit Comiczeichnern aus Weißrussland, Deutschland und natürlich Litauen erarbeitet hat. Jetzt kann man ihn lesen: Sein Titel lautet „Drawing the XXth Century“ – Comics on Lithuanian, Belarusian and German Family Stories”. Leider gibt es keine Leseprobe im Netz; über das Buch erfährt man etwas auf https://www.ehu.lt/en/events/show/comic-book-drawing-the-xxth-century-presentationund https://www.mawil.net/drawing-the-xxth-century/.
Die Europäische Humanistische Universität versteht sich als weißrussische Hochschule im litauischen Exil. Seit 2006 lehren hier Wissenschaftler, die vom Regime des Diktators Lukaschenka aus dem Land gedrängt wurden. Ackermanns Lehrtätigkeit dort wurde für fünf Jahre vom DAAD mitfinanziert, und eines der Resultate der von ihm vertretenen Angewandten Kulturwissenschaften“ ist dieses Comicbuch – so angewandt, wie nur denkbar.
Leider ist der deutsche Vertreter darin, der bekannte Berliner Zeichner Markus Witzel alias Mawil, nur mit einem Auszug aus seinem großen autobiographischen Comic „Kinderland“ vertreten, der seit Erscheinen im Jahr 2014 höchstes Lob und höchste Auszeichnungen erhalten hat. Die ausgewählten zwölf Seiten sind ins Englische übersetzt worden, aber sie vermitteln nicht die narrative Geschlossenheit des vielhundertseitigen Gesamtwerks. Doch mich haben die Zeichner aus en anderen beiden Ländern ohnehin viel mehr interessiert. Alle beteiligten Autoren erzählen vor dem Hintergrund der eigenen Familiengeschichten.
Viktoryia Andrukovic stammt aus Weißrussland und hat an der Europäischen Humanistischen Universität studiert. Ihr neunundzwanzigseitiger Comic „Veranika“ beruht auf den Erzählungen von ihrer Mutter, die bei Kriegsausbruch 1941 noch ein kleines Kind war. Zuvor fand die Zwangskollektivierung auch in Weißrussland statt, und so stehen russische Soldaten im Haus der ländlichen Familie, der älteste Sohn wird niedergeprügelt, es folgt Elend. Zwei Jahre später marschieren die Deutschen ein, und schon folgt für hiesige Leser die größte Überraschung: Die Wehrmachtssoldaten erscheinen weitaus sympathischer als die der Roten Armee, sie verhalten sich auch besser. Ein Schokoladenstück, das Veranika von ihnen geschenkt bekommt, wird zur bleibenden Erinnerung.
Der Comic ist aber nicht naiv oder parteiisch. Er nimmt eine weißrussische Perspektive ein, die dem jahrzehntelang erduldeten Sowjetsystem gegenüber kritischer ist als gegenüber der NS-Ideologie, die „nur“ drei Jahre dort herrschte. Auch die Nazis übten Zwang aus: Eine Tochter muss die Familie als Fremdarbeiterin ins Deutsche Reich schicken. Durch einen Trick schickt man nicht die eigentlich verlangte älteste Tochter, sondern die schwer erkrankte zweitälteste. Bei der Lektüre stockt der Atem angesichts dieses pragmatischen Betrugs, der ein anderes Kind zu opfern scheint. Aber wie man am Schluss erfährt, wurde die deportierte Tochter in einem deutschen Krankenhaus geheilt und kam später wieder zurück. Es ist eine der bizarrsten Kriegserzählungen, die mir je begegnet sind.
Die anderen drei Comics stammen von litauischen Autorinnen (ja, Mawil ist der einzige Mann im Buch), von Miglé Puzaité, Lina Itagaki und Viktorija Eziukas. Keine dieser Geschichten erreicht die Intensität und Befremdung des Comics von Andrukovic, und sie alle sind auch deutlich kürzer, aber jede bietet einen bemerkenswerten Stoff insoweit, als auch hier versöhnende Blicke auf eigentlich traumatische Zeiten geworfen werden: Itagaki siedelt ihre Geschichte wieder im Zweiten Weltkrieg an, mitten im Bombenhagel, Eziukas erzählt vom Erringen der Unabhängigkeit Litauens trotz sowjetischer Panzer, und Puzaité führt zurück in die deutsche Besatzungszeit, als die Geschäfte leer waren und ein handgenähtes rotes Kleid eines Mädchens zu dessen Verspottung als Anhängerin der Kommunisten führen konnte. Juden schleichen durch die Stadt, um den deutschen Häschern zu entkommen, werden versteckt und verhaftet, doch alles ist aus Kinderperspektive berichtet. Und das ist generell der Blickwinkel, der die insgesamt fünf Comics verbindet.
Mawil hat seinen vier Kolleginnen graphisch einiges voraus, aber die Naivität mancher Bildfindungen der osteuropäischen Zeichnerinnen passt wiederum besser zum Erzählton. Die Geschichten lassen verstehen, wie man im Baltikum aufs Zeitgeschehen blickte, und der Comic erweist sich einmal mehr als ein Hybrid, der es an Anschaulichkeit und Zugänglichkeit mit jeder anderen Kunstform aufnehmen kann. Hoffentlich kommt doch noch mehr solcher weltöffnender Comicliteratur im Rahmen der Messe in unsere Hände.
Vielen Dank für die interessante Anregung!
Der Link im Text führt allerdings ins Nichts..?