Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Das Mädchen hat es nicht nur faustdick hinter den Ohren

Riad Sattouf zeichnet in „Esthers Tagebüchern“, einem auf acht Jahre angelegten wörtlichen Fortsetzungscomic, das Leben und die Meinungen eines französischen Mädchens auf. Jetzt ist der erste Band über dessen Erlebnisse als Neun- und Zehnjährige auf Deutsch erschienen.Liebe Güte, mir schien schon die Übersetzung von Riad Sattoufs Comiczykus „Der Araber von morgen“, dessen bisherige drei Teile ich ins Deutsche gebracht habe, ziemlich viel Arbeit, denn Sattouf ist nicht gerade ein Textverächter. Doch was er (sich) mit „Esthers Tagebücher“ leistet, ist noch von ganze anderem Ausmaß. Also Hochachtung für Uli Pröfrock, der sich dieser neuen Sattouf-Comicserie angenommen hat. Die nächsten sieben Jahre garantiert „Esther“ ihm regelmäßige und ausgiebige  Beschäftigung.

Denn Sattoufs neues Projekt ist auf acht Alben angelegt: Das erste vor einem halben Jahr auf Französisch und nun auch in deutscher Übersetzung erschienene trägt den Untertitel „Mein Leben als Zehnjährige“, und das zweite wird heißen „Mein Leben als Elfjährige“, und so wird es weitergehen, bis die Protagonistin Esther achtzehn ist. Dann wird sie volljährig sein, und Riad Sattouf hat wieder einmal eine ganze Jugend erzählt. Wie er es beim „Araber von morgen“ ja auch getan hat, nur dass es sich dabei um seine eigene Kindheit handelt. Wobei noch unbekannt ist, wie viele Bände er dafür dernn brauchen wird. „Mindestens fünf“ hat er mir vor einem Jahr in Köln gesagt, und dieser Mann ist nicht eben bekannt dafür, hinter die eigenen Ansprüche zurückzufallen.

Er ist überhaupt sehr bekannt: in seinem Heimatland Frankreich sowieso, wo er mit den Einzelbänden des „Arabers von morgen“ regelmäßig die Bestsellerlisten stürmt, aber mitlerweile auch in Deutschland, obwohl hier von Bestsellerlisten keine Rede sein kann. Aber einen Achtungserfolg hat die Serie auch hier erzielt, und das ist auch der Grund dafür, warum nun ein anderer Verlag, nämlich Reprodukt, „Esthers Tagebücher“ herausgibt. Wobei man sagen muss, dass es eben Reprodukt war, der Sattouf überhaupt erst nach Deutschland gebracht hat, vor sieben Jahren mit „Meine Beschneidung“, einem kleinen Comic, in dem der Autor schon einmal das erzählte, was im kürzlich auf Französisch erschienenen dritten „Araber“-Teil wieder im Mittelpunkt steht. Aber 2010 ging das Bändchen noch unter, denn der Erfolg von „Der Araber von morgen“ verdankt sich ja leider auch dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ vom 7. Januar 2015. Denn einerseits wollte man plötzlich möglichst viel über die kulturellen Unterschiede von Arabern und Franzosen wissen, und andererseits war Sattouf selbst jahrelanger Mitarbeiter von „Charlie Hebdo“ gewesen. Wenige Monate vor dem Attentat hatte er aufgehört – ausgerechnet, weil er jene Serie begann, die wir nun lesen können: „Les Cahiers d’Esther“.

Er zeichnet sie wöchentlich auf jeweils einer Seite für das französische Nachrichtenmagazin „L’Obs“, das vor vierzig Jahren damit Furore machte, seine Spalten für Claire Bretécher zu öffnen (damals hieß das Heft noch „Nouvelle Observateur“). Die Fußstapfen, in die Sattouf tritt, sind also riesig, und zudem muss er sich auch noch an einem eigenen Werk messen lassen. Nein, nicht am „Araber von morgen“, obwohl man in gewisser Weise in „Esther“ das weibliche Gegenstück dazu sehen kann, sondern an „Le Vie secrète de jeunes“ (Das geheime Leben der Jugend), das er zehn Jahre lang für „Charlie Hebdo“ gezeichnet hat. Darin erzählte Sattouf von Gesprächen, die er Pariser Jugendlichen abgelauscht hatte – Vertretern aller Schichten, besonders aber der bunten und manchmal auch bösen Bevölkerung der Banlieue. Was damals Zufallsbegegnungen waren, das ist bei „Esthers Tagebüchern“ ein systematisches Projekt: Das Geschehen folgt nach Auskunft des Autors dem, was ihm ein Mädchen aus seinem Bekanntenkreis über dessen Leben erzählt. Jede Woche lässt Sattouf sich auf den neuesten Stand bringen und zeichnet ihn dann. Wie das aussieht: Die Leseprobe zeigt es (https://www.reprodukt.com/produkt/comics/esthers-tagebucher-mein-leben-als-zehnjahrige/).

So wird eine achtjährige Gegenwartschronik entstehen, die kontinuierlich Einblick in Werte, Denken und Marotten eines französischen Mädchens von heute gewährt. Esther besucht zwar eine Privatschule, stammt aber nicht aus wohlhabender Familie; ihr Vater ist Coach in einem Fitnessstudio, will aber, dass die zu Beginn der Serie noch neunjährige Tochter nicht auf die in seinen Augen verlotterten staatlichen Schulen geht. Wer nun meint, dass es auf Esthers kostenpflichtiger Grundschule gesittet zuginge, sieht sich bald getäuscht. Die Jungen sind Rabauken und dauernd auf Youporn, die Mädchen kleine Zimzicken und nur auf ihr Äußeres bedacht. Die üblichen vorpubertären Dramen spielen sich ab, beste Freundschaften entstehen und zerbrechen wieder, man turtelt miteinander herum, aber das Ganze geschieht in einem Tonfall, der an Drastik erwachsener Angeberei oder Pöbelei in nichts nachsteht. Das Bild, das Riad Sattouf von der Jugend im gegenwärtigen Frankreich zeichnet, ist düster.

De Zeichnungen sind es nicht, sie strotzen vor Energie und Details. Generell beherrscht keiner die Charakterisierung von Typen durch gezeichnete Gestik und Mimik besser als Sattouf. Wie in seinem „Araber von morgen“ gibt es pro Episode eine oder zwei Zusatzfarben und einen ständigen Textzwiespalt zwischen eigenen Kommentaren der Hauptperson, Dialogen und kursiven Bildpräzisierungen. Da bei „Esthers Tagebüchern“ aber alles auf ein festes Format eingeschworen ist, ist die Gesamterzählung kursorischer, weniger dramaturgisch ausgefeilt. Dafür aber kommt Sattoufs Talent für Pointensetzung endlich wieder regelmäßig zum Einsatz.

Begonnen hat die Chronik von Esthers Leben im Herbst 2014; auch das Attentat vom 7. Januar 2015 spielt eine Rolle in der Handlung. Der erste Band umfasst logischerweise 52 Folgen, also die erste Jahresproduktion; in Frankreich erscheint bald schon der zweite Teil. Der Zwang zur wöchentlichen Lieferung garantiert die pünktliche Fortsetzung des Projekts, und eine Verfilmung ist laut Sattouf auch schon vereinbart – als Realfilm, während die Verfilmung des Arabers von morgen“ animiert erfolgen soll. Da Sattouf beide Vorhaben selbst ausführen will, dürfte seine Arbeitsbelastung bald erklecklich wachsen, wobei er als Filmregisseur bereits Erfahrung hat, und unter den Kinoprojekten hat seine Comicarbeit nie gelitten. Dieser Achtunddreißigjährige ist einfach unglaublich diszipliniert.

Was ihn an „Esthers Tagebüchern“ gereizt hat, wird sofort klar: einmal der weibliche Blick auf die Gesellschaft, und dann die Möglichkeit, sich selbst jung zu halten, indem man regelmäßigen im Gespräch mit einer Jugendlichen bleibt. So kann Sattouf nicht nur die jeweils angesagten Popsternchen in seine Geschichten einbauen, sondern auch den sich rasch verändernden Jugendjargon, wie er auf Schulhöfen gepflegt wird. Das ist denn auch die große Herausforderung an die Übersetzung, denn nichts klingt falscher als lediglich simulierte Jugendsprache. Pröfrock hat da aber ganze Arbeit geleistet, man hört die geschlechtsspezifischen Unterschiede ebenso heraus wie die altersbedingten, und da Sattouf erfreulicherweise schon gegenüber seinen französischen Lesern zum ausgiebigen Erklären neigt, kommt auch das deutsche Publikum mit. Nur die Tatsache, dass bestimmte französische Lieder im Original zitiert, andere aber übersetzt werden (und zwar sehr witzig), ist mir bislang rätselhaft geblieben.

Esther ist eine freche Göre, ein Papatöchterchen und eine Diva. Zugleich aber schaut sie mit einem Mutterwitz auf die Welt, der großartig ist. Dass Jungs das große Thema für die Zehnjährige sind, kann man nachvollziehen, wie scharf sie aber bei aller noch kindlichen Unschuld hinschaut, ist bemerkenswert. Das wird sich im kommenden Band ändern (nicht die Schärfe, aber die Unschuld).

Eines aber würde mich sehr interessieren: Wie nahe Sattouf am dem bleibt, was seine Informantin ihm erzählt. Nicht nur, dass Esthers Vater erstaunliche Ähnlichkeit mit Sattoufs Erfolgsfigur Pascal Brutal aus der gleichnamigen Albenserie aufweist (die leider nicht auf Deutsch zu haben ist), die Familie hat – wie auch Sattouf selbst – Verwandtschaft in der Bretagne, und die am Ende des Albums enthüllte dritte Schwangerschaft von Esthers Mutter erinnert stark an Riads eigene Erfahrungen in seiner syrischen Jugend. Vielleicht spielt das Leben so verrückt, dass sich alles immer wieder neu bestätigt, was ein brillanter Comicautor erzählt. Aber so ganz will ich Riad Sattouf die Authentizität von „Esthers Tagebüchern“ denn doch nicht glauben.