Das ist ein seltsamer Comic, den Hervé Tanquerelle da gezeichnet hat. Seltsam nicht, weil seine Figuren unvertraut wären – im Gegenteil. Tanquerelle, der sich zuerst mit der Fortführung der Historien-Fantasy-Serie „Professor Bell“ im täuschend ähnlichen Joann-Sfar-Stil in mein Herz gezeichnet hat, beherrscht in „Grünland Vertigo“ nun auch die Ligne claire à la Hergé oder Jacobs perfekt. Sein Protagonist, der mit sich selbst gerade unzufriedene Comiczeichner Georges Benoît-Jean (in diesem Namen sind gleich drei im Wortsinn beziehnende Hommagen enthalten: an Georges Remi alias Hergé, Ted Benoît und Jean Giraud alias Moebius) sieht aus wie eine Mischung aus Kapitän Haddock und Orlik, und die Nebenfiguren setzen die graphische Traditionslinie fort – nur der leicht durchgedrehte Bildhauer Ville Hakkola sieht aus, als hätte Charles Burns in einer schlechten Minute den Entwurf dazu gemacht. Hier kann man sich anschauen, wie das aussieht: https://www.avant-verlag.de/comic/groenland_vertigo.
Ganz neu und befremdlich aber sind die Hintergründe. Sie beruhen erkennbar auf Fotos, die Tanquerelle während einer Nordlandfahrt auf einem großen Segelschiff gemacht hat, und nun geben sie übermalt (oder vielleicht auch abgemalt) das Dekor für die Nordlandfahrt auf einem großen Segelschiff ab. Was Kaiser Wilhelms II. liebstes Reiseziel war, hat auch Tanquerelle begeistert, und was einem gefällt, wird meist leichter zum Szenario. So ist der missmutige Zeichner Georges womöglich auch ein Selbstporträt. Auch ihm jedenfalls wird der Segeltörn zur Inspiration.
Auf dem Schiff mit seiner dänischen Mannschaft (wörtlich: keine einzige Frau ist an Bord) ergeben sich die üblichen Nickligkeiten auf engem Raum. Durch Hakkola, der mit einer aufsehenerregenden Kunstaktion an der Küste Grönlands die Aufmerksamkeit der Welt auf den menschlichen Raubbau an der Natur lenken will (und dabei natürlich auch auf sich selbst), kommt ein gehöriges Maß an egozentrischer Extravaganz mit ins Spiel – und ein paar finnische Dialogbrocken neben den recht zahlreichen dänischen, die aber im Anhang alle übersetzt werden. Und so schippert der Schoner „Aurora“ mit seiner dreizehn Mann starken Besatzung im Sommer 2011 von Island nach Grönland. Und wir dürfen als Leser dank Tanquerelles quasifotorealistischer Darstellung sagen, wir sind dabeigewesen.
Einen Teilnehmer dieser Expedition – der echten, auf der auch Taquerelle war, kenne ich übrigens. Es ist ein deutscher Schriftsteller mit Faible fürs Maritime, und ich habe begierig nach Details im Comic „Grönland Vertigo“ gesucht, die ich mit ihm in Verbindung bringen könnte, doch keine Spur gefunden. Somit hat Tanquerelle offenbar bei aller Treue zum Schauplatz die Geschichte doch ganz vom realen Erleben gelöst. Und das möchte man ihm und meinem Gewährsmann auch wünschen, denn weder der Comiczeichner noch die anderen darin auftretenden Künstler kommen in der Fiktion besonders gut weg.
Lesenswert ist die Comic, den der Avant Verlag mit seiner erstaunlichen Neugier für ungewöhnliche Projekten schon wenige Monate nach der französischsprachigen Publikation (im „Tintin“-Verlag Casterman) in gleich liebevoll nostalgischer Aufmachung auf Deutsch verlegt hat, allein schon deshalb, weil er einen Schauplatz gewählt hat, der ungeachtet der aktuellen Schwemme an Reportage-, Reise- oder exotischen Abenteuercomics bislang noch Terra incognita war. Und die Hybris, die Hakkola antreibt, ist psychologisch ebenso gut motiviert wie die Unsicherheit von Georges. Mit dem raubeinigen Reiseschriftsteller Jǿrn Freuchen gibt es einen Säufer, der auch im (Sucht-)Verhalten genau nach Haddocks Vorbild agiert, und Ville Hakkolas Assistent Olaf Olsen ist ein reinrassiger Wiedergänger von Igor Wagner, dem Klavierbegleiter Bianca Castafiores aus Hergés „Tim und Struppi“-Kosmos. So rundet sich eine künstlerklischeegeladene Geschichte zur großen Comic-Klassiker-Variation. Ich fühle mich trotz der irritierenden Hintergründe wie zu Hause in dieser grönländischen Comicwelt.