Schon der Name: Otto. Hatten wir das als Titel eines französischen Comics erwartet? Aber ja, wenn dessen Autor Marc-Antoine Mathieu ist, denn Otto ist ein Palindrom, er liest sich von vorne wie von hinten gleich, und somit spiegelt er sich auch. Und Spiegelungen sind ein Thema, das Mathieu liebt, siehe etwa seinen bis heute überraschendsten Comicband, „3 Sekunden“, eine Kriminalgeschichte, die nur über einen endlosen Zoom erzählt wird, der zahllose Spiegelungen braucht, um alle Facetten des Geschehens auch einzufangen. Ein Meisterwerk.
Das könnte von Otto stammen, dem Installationskünstler oder „Metaphysiker der Spiegelungen“, wie ihn die Kunstwelt nennt, von dem der Comic „Otto“ erzählt. Der Mann wird zuerst sichtbar als Lücke in einer Menschenmenge, die auf einem zugefrorenen See im hohen Norden eine einzelne Menschengestalt bildet – selbst ein Installationskunstwerk, aber ungewollt. Die Menge wartet auf den ersten Einsatz eines Riesenspiegels, der von seiner Erdumlaufbahn aus die irdische Polarnacht durch reflektiertes Sonnenlicht erhellen soll. Und irgendwo in dieser Menschenmasse steht Otto und fehlt zugleich. Warum, das wird in „Otto“ erzählt.
Mathieus Pointen darf man nicht verraten, sonst fehlt bei der Lektüre die Verblüffung. Dieser französische Zeichner, mittlerweile achtundfünfzig Jahre alt, hat in den letzten drei Jahrzehnten so ziemlich alles ausprobiert, was man mit der materiellen Form des Comics machen kann (erfreulicherweise sind alle diese Bände bei Reprodukt auf Deutsch greifbar). Er hat dreidimensionale Comics gezeichnet und solche, die mitten in der Handlung beginnen, ehe sie übers Ende wieder am Anfang landen. Es gibt ausgerissene Seiten, die aber handlungsnotwendig sind und säuberlich ausgeschnittene Einzelpanels, die Bilder der Folgeseiten schon in die früheren Seitenarchitekturen integrieren. Und es gibt Comic, wie zuletzt „Richtung“, die die Zeichensprache piktogrammatisch durchdeklinieren und mit unserem Gesichtssinn Versteck spielen. Oder sagen wir besser: ihn verwirren. Alles im Dienst eines besseren Verständnisses der Erzählform Comic.
Bei „Otto“ ist das nicht anders, aber nicht so offensichtlich. Hier steht eine Handlung um ihrer selbst willen im Vordergrund. Als wir Otto zum ersten Mal sehen, ist er im Guggenheim Bilbao in Aktion zu sehen, und schon wie Mathieu das Banner an der Fassade des Frank-Gehry-Museumsbaus von Bild zu Bild wechseln lässt, zeigt das Spiel, das er diesmal mit uns treiben will: Es geht um Verschmelzung von Persönlichkeit und dem, was man über sie weiß. So sieht das in der Leseprobe des Verlags aus: https://www.reprodukt.com/produkt/graphicnovels/otto/. Pikant übrigens, dass gerade im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst eine Mathieu-Ausstellung läuft (noch bis Mitte Oktober) , die prachtvoll geglückt ist, aber ihrerseits kaum Persönliches offenbart. Das Werk ist hieri Trumpf, und auch aus „Otto“ ist da etwas zu sehen, aber eine Verquickung,von Leben und Kunst wie Mathieus Otto sie betreibt, wäre für dne Zeichner selbst wohl ein Albtraum. .
Kurz nach seiner Kunstaktion in Bilbao erfährt Otto vom Unfalltod der Eltern und erbt ein Archiv, von dem er nichts wusste: eine lückenlose Dokumentation seiner ersten sieben Lebensjahre ins schriftlichen und bildlichen Aufzeichnungen, seinerseits ein psychologisches Experiment, nunmehr eine Spiegelung eines Selbsts, das er längst hinter sich gelassen wähnte. Otto steigt aus, gibt seine Kunst auf und widmet sich ganz diesem Erbe – und naturgemäß braucht er für die Sichtung seiner ersten Lebensjahre mindestens so viel Zeit, wie diese umfassen.
Diesmal hat Mathieu also ein metaphysisches Problem zum Thema seines neuen Comics gemacht: Wer sind wir, und wie wurden wir das? Spinoza war ihm Anregung, und gleichzeitig sind och auch wieder reiche visuelle Effekte vertreten, die auch unsere Wahrnehmung herausfordern und nach dem Authentizitätsgrad unserer Spiegelbilder fragen. Dass die Erörterung sich nicht auf die pure optische Reflektion beschränkt, sondern auch die Reflexion unserer selbst ins Auge nimmt, versteht sich bei einem Denker und Zeichner wie Mathieu von selbst.
Dass er dann aber noch eine Hommage an Jacques Tardi unterbringt, aus dessen Comics er eines der typischen kleinen Vorort-Wohnhäuser entnimmt, wie sie in „Hier selbst“ oder der „Nestor Burma“-Reihe dauern anzutreffen sind, dass Mathieu die Mittel seines Vorgängerbandes „Richtung“ variiert, dass er auch „Gott höchstselbst“ fortschreibt, ejnen Comic, der schon einmal an den Grundlagen des menschlichen Daseins rüttelte. In „Otto“ ist das, der künstlerischen Ausrichtung wegen, weniger existenziell, aber mindestens so intellektuell. Auf diesem Niveau reflektiert derzeit kein anderer Comiczeichner.