Gion Capeder hat ein klar erkennbares Vorbild: Adrian Tomine. Dieselbe Kühle in Form und Farben, dieselbe Kühle im Blick auf die Welt, die aber nicht zu verwechseln ist mit Emotionslosigkeit. Beider Protagonisten haben eher zu viele Gefühle, zu widersprüchliche. Und darin geht der 1971 geborene Schweizer Capeder sogar noch über den drei Jahre jüngeren, aber schon viel länger als Comiczeichner aktiven Amerikaner hinaus.
Capeder, in Fribourg geboren und heute in Bern tätig, hat erst spät mit der Publikation eigener Comics begonnen. 2011 erschien „Le 7“ im Selbstverlag, die in Capeders französischer Muttersprache verfasste Geschichte eines Jungen aus einer scheiternden Familie, mit 70 Seiten ein ambitioniertes Debüt und auch schon makellos in der markanten Tomine-Ligne-Claire gezeichnet. Dass es angesichts dieser Qualitäten sechs Jahre bis zum zweiten Album dauerte – zwischendurch gab es einige Kurzgeschichten für Anthologien – ist überraschend, aber für „Superman“ hat sich das Warten gelohnt. Allerdings hat sich kein französischsprachiger Verlag für das Werk gewinne lassen, sondern die in Zürich residierende Edition Modern, die den Band nun auf Deutsch herausgebracht hat. Wie er aussieht sieht man hier: https://www.gioncapeder.ch/.
Der Superman des Titels ist ein Angestellter namens Chris, wohl in seinen Dreißigern, Familienvater und stellvertretender Leiter der Dependance eines großen Unternehmens, dessen genaue Aufgaben nie erwähnt werden. Es geht um Projektentwicklung, und da es dazu der Absprache mit Partnern bedarf, ist Koordination und Kommunikation unentbehrlich. Chris erweist sich darin als brillant, doch nach intensiven Phasen folgen immer wieder kurze Abwesenheiten, die seinen Chef und die Kunden verärgern. In diesen unabgesprochenen Auszeiten stillt Chris seinen sexuellen Appetit bei allerlei Liebesaffären.
Frau und kleine Tochter zu Hause ahnen nichts davon, als Vater und Ehemann ist Chris vorbildlich, wenn er nur nicht so wenig Zeit daheim verbrächte, aber daran ist natürlich der Job schuld. Dort steht ein Führungswechsel an, der Vorgesetzte wird im Unternehmen aufsteigen, auf den freiwerdenden Führungsposten spekuliert Chris. Unter dem Druck, sich noch mehr zu bewähren, wird auch sein Bedürfnis nach Ausbruch intensiver, und die Koordination, die nunmehr die größte Aufgabe darstellt, ist das Versteckspiel im eigenen Leben. Je komplizierter es wird, desto unzufriedener und getriebener wird Chris, und irgendwann schleichen sich Gedankenspiele ein, die über Sex hinausgehen und in Tötungsphantasien gipfeln. Die sind als grobe Skizzen in die Handlung eingezeichnet, wie kleine Doodles auf Post-it-Zetteln – eine schöne Idee.
Capeder erzählt seine Geschichte von einem sexbesessenen jungen Mann wie gesagt ganz kühl, aber umso mitreißender. Und er erzählt sie konsequent auf ein Ende hin, das kaum jemand erwartet haben dürfte. Es gibt vier jeweils durch zwei Blankoseiten voneinander getrennte Kapitel, die unterschiedliche Eskalationsstufen dieses Lebens beschreiben – vom noch halbwegs aufrechtgehaltenen Alltag bis zum Gewaltexzess, der jedoch nicht gezeigt wird. Der Schluss ist offen, aber die Farbgebung deutet an, wie sich Capeder die Zukunft von Chris denkt. Alles ist hier stimmig inszeniert.
Dazu gibt es Details, die eine Erzähl- und Gestaltungsfreude verraten, die im Comic nicht alltäglich ist. Eine winzige witzige Anspielung auf Hergés Schulze und Schultze etwa. Oder die einzige Extravaganz im sachlichen Zeichenstil, die sich Capeder erlaubt: seine Laubbäume, deren Kronen als wilde Liniengeschlinge angelegt sind, die im flächigen Stil der sonstigen Objekte und Personen wie außerirdische Eindringlinge wirken. Auf Umrahmung seiner Panels verzichtet Capeder, wodurch die Seitenarchitektur eine ähnliche Fragilität bekommt wie das Leben von Chris.
Man kann der Edition Modern nur gratulieren zu dieser Entdeckung. Und sich wundern, dass Capeders Comic trotz seiner epigonalen Anleihen bei Tomine nie wie ein Werk aus zweiter Hand wirkt.