Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Schön, schöner, „Sie“

Der erste Eindruck: ein wunderschöner Comic. Der schönste seit langer Zeit in Deutschland. Wenn es erstmal nur nach dem äußeren Erscheinungsbild geht. Wie macht der Mami-Verlag das? Mit untrüglicher Sicherheit seit Jahren solche Comics zu gestalten wie Karin Kraemers „Sie“? Wobei trotz einer unverwechselbaren Optik (und Haptik! Diese wunderbaren Pappeinbände und Papiere!) jedes neue Buch ein Unikum ist. Diesmal besteht es aus sechs großformatigen Einzelheften von jeweils unterschiedlichem Umfang (16 bis 36 Seiten), die zusammen in einem kartonierten Schuber versammelt wird, der in phantastischer Kombination von Violett und tiefem Schwarz (dieser Druckerschwärzegeruch!) die Frontalsilhouette einer Frau im Kapuzenmantel zeigt, deren Gesicht bis auf Mund und Augen dunkle bleibt. Das ist „Sie“.

Welche Reihenfolge sich für die Lektüre der sechs unterschiedlich betitelten Hefte empfiehlt? Das zu entscheiden ist Sache des Lesers. Meine ist folgende: „Das Fest“, „Der Ausflug“, „Die Vorführung“, „Karawane“, „Sie“ und schließlich das dünnste, „Tartar“. Ob die Hefte in dieser Ordnung im Schuber waren, als ich ihn kaufte, weiß ich nicht mehr. Ich war so beglückt, ihn zu finden, dass ich sofort alles durcheinandergebracht habe.

Fundort war der diesjährige Millionaire‘s Club in Leipzig, das grandiose Independent-Comicfestival zur Zeit der Leipziger Buchmesse. Das ist jetzt sechs Monate her, aber die Freude über „Sie“ lässt nicht nach. Und der Ärger darüber, den Band nicht gleich, als er erschien, nämlich 2016, entdeckt zu haben. Aber der Mami-Verlag macht zwar wunderschöne Comics, hat aber auch einen miserablen Vertrieb. Was daran liegt, dass die beiden Zeichner Anke Feuchtenberger und Stefano Ricci, die hinter diesem Unternehmen stellen, künstlerisch arbeiten wollen und nicht marktwirtschaftlich. Die kleinen Auflagen der Mami-Publikationen (ein paar hundert Stück) machte den Aufbau eines eigenen Vertriebs unmöglich. „Sie“ wird wie die anderen Verlagserzeugnisse über Reprodukt mitvertrieben, aber in den regulären Katalogen des Berliner Hauses tauchen die Mami-Comics nicht auf. Wenn man sie nicht irgendwo liegen sieht, wird man sie nicht bemerken. Wenn sie aber irgendwo liegen, sind sie nicht zu übersehen. „Sie“ schon mal gar nicht, da haben Ricci und der Hamburger Zeichner Arne Bellstorf als Hersteller ganze Arbeit geleistet.

Und Karin Kraemers „Sie“ ist auch inhaltlich bemerkenswert. Es gibt kaum Text in den jeweils ganz-, manchmal gar doppelseitigen (auf jeden Fall riesigen) Zeichnungen. Manchmal einzelne sehr knappe Sprechblasen, bisweilen ein auktorialer Erzähltext, und niemals ist es die Titelfigur, die Frau mit dem schwarzen Gesicht, die spricht. Sie durchstreift die sechs Teile des Comics wie eine Erscheinung, alle Beobachterinnen – und des treten nur Frauen in „Sie“ auf – sind ratlos, um wen es sich handelt, was „Sie“ in ihrer Stadt macht. Man könnte das jetzt als Kommentar zu Zuwanderung, Flucht oder Multikulturalismus verstehen, aber das würde gerade der assoziativen Offenheit von Kraemers Erzählweise widersprechen, die sich gerade nicht auf eine eindeutige Geschichte reduzieren lassen will. Wobei klar ist, dass Oberflächlichkeit (in graphischem wie in inhaltlichem Verständnis) das ist, wogegen die 1982 geborene Künstlerin anzeichnet. Und so sieht das aus: https://www.karin-kraemer.net/karin-kraemer.

Natürlich gibt es enge Verwandtschaft mit den legendären Comics von Anke Feuchtenberger: dieselbe Lakonie, dasselbe Prinzip einer BD Brute (wie man solche Bildergeschichten in Anlehnung an Art Brut nennen sollte), derselbe malerische Gestus. Und doch ist Karin Kraemer keine Nachahmerin, sondern eine Schülerin, die mit ähnlichen Mitteln zu einer eigenen visuellen Form findet. Und zu einem neuen erzählerischen Weg. Das Heft „Sie“ etwa besteht aus nicht anderem als 36 Frontalporträts weiblicher Gesichter in Tusche und Aquarell. Doch durch die Einordnung in den Gesamtkomplex des Schubers „Sie“ bekommt diese konzeptionelle Arbeit einen neuen Zusammenhang, wir „lesen“ die Köpfe, versuchen Zuordnungen, passen sie ein in das, was wir als Geschichte erkennen wollen. Wie gesagt: mit maximaler Freiheit betreffs der konkreten Position in der Handlung.

Eine Nacherzählung hat deshalb auch gar keinen Sinn. Sie wäre jeweils nur Momentaufnahme und mit der nächste Lektüre obsolet. Das habe ich bei meinen wiederholten eigen Durchgängen gemerkt. Wo bekommt man so viel Freiheit für 29 Euro, einem Witzpreis allein schon angesichts der drucktechnischen Qualität des Werks? Man darf nur hoffen, dass es Karin Kraemers Comic ergeht wie „Katze hasst Welt“ von Kathrin Klingner, einem anderen Mami-Band (natürlich ganz anders), der auch vor einem Jahr erschien und jetzt in anderer, schlichterer Form, aber auch sehr schön ins Hauptprogramm von Reprodukt gewandert ist. Oder Birgit Weyhes Debütcomic „Ich weiß“, der vor neun Jahren bei Mami herauskam und nun beim Avant Verlag noch einmal neu herausgegeben wurde, nachdem die Erstauflage längst nicht mehr greifbar war. Aber schöner als das Original von „Sie“ kann’s nicht mehr werden, also zugreifen, wen es noch irgendwo zu bekommen ist.