Comic

Comic

Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Fotorealismus auf zweierlei Weise

Schauen Sie sich zuerst einmal die vom Verlag angebotene Leseprobe an, die sich unter https://www.avant-verlag.de/comic/der_riss findet. Was sehen Sie da? Nach einem fotorealistischen Cover geht es genauso weiter: mit zwei ganzseitigen historischen Fotos, die allerdings graphisch überarbeitet wurden: koloriert, leicht weichgezeichnet, im Ganzen einer Zeichnung nähergebracht. Und um Textkästen ergänzt. So sehen dann auch die Folgeseiten aus, die nun allerdings ein typisches Comic-Arrangement aus jeweils mehreren Bildern aufweisen, aber weiterhin erkennbar auf Fotovorlagen beruhen. Dennoch handelt es sich bei dieser Geschichte nicht um das, was in Spanien „fotonovela“ heißt, also eine Bildergeschichte aus lauter mit Texten versehenen Fotografien. Hier wurde vielmehr eine Zwischenlösung angestrebt. Das ist das formal Besondere an Carlos Spottornos und Guillermo Abrils Comic „Der Riss“.

Comic und besonders deshalb, weil Spottorno aus mehr als 25.000 Fotos, die er im Laufe der gemeinsamen Reise gemacht hat, comicartige Bildsequenzen montiert und die Aufnahmen am Computer so bearbeitet hat, dass sie den bereits erwähnten graphischen Charakter bekommen. Dabei wurden die Motive nicht manipuliert, nur moderat korrigiert – die Korrekturen beschränken sich neben Kolorierung und Weichzeichnung auf Begradigungen von Motiven oder eine mehrfach simulierte Fernglasperspektive. Alles, was gezeigt wird, hat sich so ereignet wie gezeigt. Wenn auch, wie Abril einräumt, nicht notwendig in der exakten Reihenfolge des Buchs. Da wurde auf die Erwartungen an eine stringente Geschichte Rücksicht genommen.

Es gibt aber auch inhaltlich Besonderes an „Der Riss“. Das Buch ist ein Reportagecomic, oder genauer: ein Reportagecomicsammelband. Denn es umfasst insgesamt sieben Reiseberichte, die der Fotograf Spottorno und sein spanischer Landsmann, der schreibende Journalist Abril, im Auftrag der Wochenzeitschrift „El País Semanal“ seit 2013 drei Jahre lang quer durch die Europäische Union getätigt haben – und über die EU hinaus, zum Beispiel nach Tunesien, in die Türkei oder die Ukraine. Ihr anfängliches Thema: die Flüchtlingskrise, 2013 noch lange nicht auf dem Höhepunkt, aber durch etliche Schiffskatastrophen im Mittelmeer schon präsent. Im Zentrum des Buchs steht deshalb auch eine im März 2014 entstandene Reportage von Bord eines italienischen Rettungsschiffs der EU-Grenzschutzmission Frontex. Bei dieser und den anderen von Spottorno fotografisch festgehaltenen Konfrontation der Kulturen und des differierenden Wohlstands an den Außengrenzen der EU fiel beiden Berichterstattern auf, dass sich dabei ein Riss in ihrem Zivilisationsverständnis auftat, der auf den Fotos sichtbar gemacht wurde durch Zäune, Sicherheitszonen, einander gegenüberstehenden Menschenmengen oder auch Meeresströmungen und Bergketten. Dieser Riss gab dem Buch, in dem die Reportagen versammelt wurden, seinen Titel.

Aber er will noch mehr symbolisieren. Abril schreibt unter dem Eindruck der Pariser Attentate vom November 2015 und eines Besuchs im Baltikum an der russischen Grenze: „Bei unserer Reise entlang der Außengrenze – des großen Risses – haben wir Dutzende kleinere Risse im europäischen Boden gesehen. (…) ‚Alle sind miteinander verbunden’, sagte Carlos kurz vor dem Attentat. ‚Hält man sie nicht auf, kollabiert die Struktur.’“ Hier zeigt sich am im Deutschen etwas schiefen Bild die Herausforderung für den Übersetzer André Höchemer: Einen Riss kann man nicht aufhalten, man kann ihn nur schließen; aufhalten ließe sich das Aufreißen. „La grieta“, wie der Band im Original heißt, ist auch „die Spalte“, und hier ist das Aufhalten der Spaltung gemeint.

Gemeint ist damit sowohl die Diskrepanz zwischen dem europäischen Wohlstand und der Armut in den Ländern jenseits des Mittelmeers als auch das wachsende Misstrauen gegenüber Russland. Der zweite Teil des Buchs führt die beiden Reporter deshalb im Winter 2015/16 in den Nordosten der EU, nach Lettland, Estland und Finnland. Hier gibt es kein Flüchtlingsproblem (zumindest kein gravierendes), dafür aber ein politisches, das sich zu einem militärischen ausweiten könnte. Und dadurch würde die wohlige Ruhe, die Europa für Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten so attraktiv macht, gefährdet. Es könnte auch uns drohen, was die Menschen, die hierher fliehen, in ihren Heimatländern erleben mussten. Das ist die Warnung, die Spottorno und Abril in „Der Riss“ aussprechen.

Es ist ein Jahr nach der mit heißer Nadel gestrickten spanischen Originalausgabe nun auf Deutsch erschienen, beim immer auf ungewöhnliche Erzählformen neugierigen Avant Verlag. Letzte Woche hat zudem im Literaturhaus Stuttgart, wo Erwin Krottenthaler in den letzten Jahren dafür gesorgt hat, dass Comics zum festen Bestandteil des dortigen Programms geworden sind, eine große Ausstellung zu „Der Riss“ eröffnet, die danach auf Tournee gehen wird, auch außerhalb Deutschlands. Das Thema brennt ja nicht nur hier den Menschen auf den Nägeln. Man kann sich nur wünschen, dass dieser Comic und die Ausstellung ein großes Publikum finden werden. Dann wird der Horizont erweitert: über Europa hinaus, aber auch über die Klischees hinaus, was ein Comic sein und wie er aussehen soll.

Dasselbe gilt für Olivier Kuglers gleichzeitig bei der Edition Modern erschienenen Reportagecomicband „Dem Krieg entronnen“. Dieses Projekt habe ich vor drei Jahren über eine Ausstellung kennengelernt, die beim Comicfestival Fumetto in Luzern gezeigt wurde: eine gezeichnete Reportage über das Flüchtlingslager in Domiz im kurdischen Teil des Nord-Iraks. Auf den ersten Blick – die Leseprobe des Verlags enthält nur eine, dafür allerdings sehr textintensive Seite: https://www.editionmoderne.ch/de/82/leseprobe/312/dem-krieg-entronnen.html; mehr und typischere Beispiele sind auf Kuglers eigener Homepage zu finden: https://www.olivierkugler.com/syrian_refugees_on_kos_island/4_omar.html) – kann man sich kaum einen größeren Unterschied zu „Der Riss“ vorstellen. Hier ist alles sichtbar Handwerk, also Zeichnung. Der Witz dabei ist allerdings, dass auch Kugler seine Reportagen mittels Fotos erstellt, die er während seinen Reisen und Gespräche aufnimmt, diese dann aber später im Atelier nachzeichnet und die eingescannten Zeichnungen teilweise digital übereinanderlegt, als wären alle diese Bilder als rasche Skizzen, für die kaum genug Platz auf dem Blatt gewesen ist, am Ort der Ereignisse selbst entstanden. Die zur Bewahrung des Skizzencharkters nur selektiv eingesetzten Farben stammen aus dem Computer, sind also nicht aquarelliert, und überhaupt ist der von Kugler erzielte Gesamteindruck des Handwerklichen ein Produkt größter computertechnischer Sorgfalt. Über das Verfahren hat Kugler in einem großen Porträt in der englischen Grafikdesig-Zeitschrift „Eye“ (No. 93, Vol 24, 2017) Auskunft gegeben.

Selbst die scheinbar chaotisch, weil so spontan über die Seiten gestreuten Texte sind Resultat genauester Überlegung und auch nicht handgelettert, sondern mit einem eigens für Kugler erstellten Font gesetzt. Das erleichtert die Ersetzung der Texte durch Übersetzungen.

Und das ist wichtig, denn Kugler ist zwar Deutscher, arbeitet aber in England, und zwar für dortige, hiesige und auch französische Zeitschriften, also in drei Sprachen. Sein Flüchtlingsprojekt entstand in enger Kooperation mit der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, die Kugler Ende 2013 einen Besuch in einem kurdischen Flüchtlingscamp im Nord-Irak ermöglichte. Später recherchierte Kugler dann auf der griechischen Insel Kos, im sogenannten „Dschungel“, dem verrufenen Migrantencamp bei der französischen Hafenstadt von Calais, und in Birmingham, wo der Zeichner eine syrische Familie traf, denen die Flucht durch ganz Europa bis nach Großbritannien geglückt ist. Den Abschluss bietet ein Besuch am Jahresende 2016 in Kuglers Schwarzwälder Heimatdorf, wo auch syrische Flüchtlinge untergekommen sind.

Also nahezu derselbe Entstehungszeitraum wie bei Spottorno und Abril, dieselbe Episodenstruktur, dieselbe zentrale Rolle der Fotografie als Bildquelle und vor allem natürlich dasselbe Generalthema. Wobei Kugler sich für den Blick von außen auf Europa interessiert und deshalb vor allem Gespräche mit Flüchtlingen führt, während in „Der Riss“ der Blick von Innen auf die Flucht erfolgt – weshalb die beiden Spanier mehr auf Interviews mit Grenzschutzbeamten oder Soldaten aus der EU setzen als mit Flüchtlingen. Beiden Comics gemeinsam ist aber ein fast verzweifelter Grundton angesichts der humanitären Lage in den Lagern und auf den Fluchtstrecken. Und beide kaschieren diese Verzweiflung hinter ästhetisch ausgefuchsten Konzepten, so dass der Reiz der Graphik die Beschäftigung mit dem ebenso heiklen wie deprimierenden Thema erleichtert.

Mit diesen beiden Comics etablieren sich die Autoren als wichtige Protagonisten des internationalen Reportagecomics, auf demselben Niveau wie der Amerikaner Joe Sacco, der Kandier Guy Delisle und der Franzose Emmanuel Guibert. Letzterer hat in „Der Fotograf“ als Erster den Reiz der Kombination von Fotografie und Comic für sein Genre sichtbar gemacht. Von Sacco wiederum weiß man, dass er Fotos als Gedächtnisstützen benutzt – jedoch nicht als unmittelbare Vorlagen. Delisle schließlich setzt auf seine Skizzen. Mit dem schon seit einigen Jahren aktiven Kugler und dem neu als Comic-Erzähler auftretenden Duo Sponotto/Abril kommt nun ein synthetisches Verfahren zum Zuge, das unsere Sehgewohnheiten verändert. Unsere Einstellung zur Gegenwart womöglich auch.