Zunächst einmal das: Zeigen kann ich hier nur eine Seite aus dem Comic (https://kultur-online.net/files/exhibition/04_3747.jpg). Denn die Berliner Akademie der Künste als Auftraggeber und Steffen Thiemann als Zeichner (oder besser Holzschneider) dieses Comics haben selbst keine Bilder daraus ins Netz gestellt. Und die beiden Szenaristen konnten es nicht tun; sie sind schon lange tot. Trotzdem ist es interessant, im Netz nach „Mord im Fahrstuhlschacht“ zu suchen, denn dabei stößt man vor allem auf ein Verbrechen, das 2016 in Leipzig vor Gericht verhandelt wurde. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, oder anders gesagt: Brecht und Benjamin waren einmal mehr ihrer Zeit voraus, 83 Jahre diesmal.
Ihr „Mord im Fahrstuhlschacht“ stammt von 1933, als beide sich im Pariser Exil trafen und eine gemeinsame Leidenschaft fruchtbar machten: die für Kriminalromane. Allerdings ging das Projekt nicht über fünf mit „Tatsachenreihe“ betitelte Brechtsche Typoskriptseiten hinaus (die, wie bei ihm üblich, eine seiner Geliebten schrieb, weshalb man Margarete Steffin wohl als dritte Autorin bei „Mord im Fahrstuhlschacht“ nennen sollte) beziehungsweise über eine handschriftliche Szenenfolge, die Benjamin notiere und in einem Briefumschlag mit der Aufschrift „Kriminalroman“ hinterließ, in dem sich noch ein paar Bemerkungen dazu fanden. Die beiden Entwürfe wurden unabhängig voneinander 1989 in den jeweiligen Werksuasgaben publiziert. Dass sie etwas miteinander zu tun hatten, merkte erst mein hochgeschätzter Kollege Lorenz Jäger, der diese Entdeckung 1993 im „Brecht-Jahrbuch“ vorstellte und ihm den Titel gab, der nun auch auf dem Comic steht: eben „Mord im Fahrstuhlfach“. Also gibt es – Ehre, wem Ehre gebührt – mit ihm auch noch einen vierten Verfasser.
Aber nun endlich zur Sache selbst, Thiemanns Comic. Angefertigt wurde er anlässlich des aktuell in der Akademie laufenden Aussstellung „Benjamin und Brecht – Denken in Extremen“, und es gibt ihn in zwei Versionen: einmal im sehr schönen bei Suhrkamp erschienenen Katalog und dann als Separatpublikation der Akademie. Ich empfehle Letztere, nicht nur, weil sie mit 7,50 Euro deutlich billiger ist, sondern vor allem, weil sie mehr als doppelt so groß ist, und das bekommt den Holzschnitten von Thiemann exzellent. Dazu gibt es im reinen Comic noch ein Nachwort des Literaturwissenschaftlers Erdmut Wizisla, das genaue Auskunft über die Geschichte der seltsamen Geschichte gibt. Und ein alternatives Titelblatt, das wesentlich dramatischer ist als das im Katalog, das allerdings wiederum im Heft fehlt. Also sollten Liebhaber kurzerhand beide Publikationen kaufen.
25 Seiten umfasst der Comic, nicht schlecht für das denkbar spärliche Ausgangsmaterial. Zumal sich Thiemann sklavisch an Brechts Text hält und ihn Wort für Wort in Holz geschnitten hat. Da die getippte Projektskizze keine Dialoge hält, sondern nur die Handlung beschreibt, gibt es auch im Comic kaum wörtliche Rede, obwohl die ersten Sätze als Sprechblasen angelegt sind, die Brecht seiner Geliebten Steffin beim Rasieren diktiert. Und auch Benjamin kommt zu Wort und Bild: mit „Fußnoten“, die seine hinterlassenen Bemerkungen zum Gemeinschaftsprojekt wiedergeben – eine wunderbare Lösung, die so erstmals beide Überlieferungen literarisch zusammenführt.
Thiemann, Jahrgang 1966, versteht sich als Theater- und Hörspielautor aufs Montieren von Szenen und Texten. Aber er ist auch ein guter Holzschneider, der sich hier biographisch passend auf den expressionistischen Stil der zwanziger Jahre bezieht, auf Masereel, Kirchner, Heckel, auch Grosz. Es gibt wohl kaum eine andere Ästhetik, sie sosehr Berlin in seiner (kulturell) goldenen Phase heraufbeschwört, und so muss man gar keinen weiteren Gedanken daran verschwenden, wo „Mord im Fahrstuhlschacht“ spielt – obwohl der Handlungsort mit „M…“ bezeichnet wird.
Erzählt wird die Geschichte von Karl Seifert, der angeblich als Handlungsreisender unterwegs ist, aber tatsächlich Aktiengesellschaften erpresst, indem er ein häufiges Versäumnis bei deren Publizitätspflichten ausnutzt. Es ist bemerkenswert, wie Brecht und Benjamin hier ein reales Phänomen zur Grundlage einer Geschäftsidee ihres erpresserischen Protagonisten machen, die erst einmal gar nichts Kriminelles hat. Seifert nutzt gnadenlos die rechtslage aus: Sein Drohpotential ist eine Anzeige, die eine empfindliche Geldstrafe nach sich zöge. Ihn auszuzahlen, kommt billiger.
Auf diese Tricks wird mehr zeit verwandt als auf den titelgebenden Mord im Fahrstuhlschacht (der aber ja eh nicht Brechts und Benjamins Titel war). Der ereignet sich als eine höhere Gerechtigkeit, und es ist einigermaßen kompliziert, wie es dazu kommt. Denn man merkt auch Brecht den Theaterkenner (und polygamen Liebhaber) an, der ein munteres Wechsel- und Verwechselspiel zwischen Ehefrau und Liebschaften von Herrn Seifert in Gang setzt, die ein böses Ende nehmen. Ein Whodunnit ist diese Geschichte nicht, eher ein Moralstück. Es hätte aber ohnehin nur Auftakt sein sollen für eine Serie (deshalb der Typoskripttitel „Tatsachenreihe“) um eine stehende Figur, den pensionierten Richter Lexer (nomen est omen), der jedoch hier erst am Rande auftritt – und hätte Benjamin nicht zwei seiner „Fußnoten“ zu ihm hinterlassen, würde man Lexers detektivischen Blick gar nicht bemerken.
Thiemann hat erkennbar Spaß an seiner Adaption, sie quillt über von kleinen Details, und Brecht und Benjamin selbst sind wichtige Zaungäste des Geschehens. So wird die gemeinsame Arbeit an „Mord im Fahrstuhlschacht“ gespiegelt im Comic, der darüber hinaus kluge Bildübergänge und -allegorien zu bieten hat. Für 25 Seiten ist das eine beeindruckende Ausbeute. Nur, dass die Klimax vier ganzseitige Bilder gewidmet bekommt, ist ein wenig übertrieben, so schön jedes einzelne davon geraten ist. Aber „Mord im Fahrstuhlschacht“ ist eine echte Entdeckung, und das also schon zum zweiten Mal.