Wenn unsereins verreist, dann hat er was davon. Seltene Comics zum Beispiel. Wie „The Year of the Pioneer“ von Andreea Chirica. Nie gehört? Natürlich nicht, ich bislang auch nicht, denn es handelt sich um einen Comic aus Rumänien, dem Land, das zwar in diesem Jahr Ehrengast der Leipziger Buchmesse war, aber nach Auskunft der meisten dortigen Autoren eines der schlechtesten Buchvertriebssysteme Europas hat (genauer gesagt nennen die meisten dieser meisten es sigar das schlechteste). Da wird ein Comic, auch wenn er von einem rumänischen Verlag namens Hardcomics auf Englisch publiziert wurde und sich somit dezidiert an den Auslandsmarkt richtet, wohl kaum eine Chance haben, wahrgenommen zu werden. Obwohl er es verdient hätte. Man braucht also Glück.
Das hatte ich. Ich hätte den kleinen querformatigen Schwarzweißband niemals gefunden, wenn nicht ein Journalist aus Bukarest, der um meine Comicbegeisterung wusste, ihn mir kürzlich in die Hand gedrückt hätte, als ich in die rumänische Hauptstadt gekommen war, um vor der Leipziger Messe die dortige literarische Szene kennenzulernen. In keinem Buchgeschäft von Bukarest habe ich den Band von Chirica liegen gesehen, obwohl fast alle englischsprachige Abteilungen hatten und eines immerhin auch ein eigenes Comicregal aufwies. Aber in dem fanden sich vor allem amerikanische Superheldenhefte in rumänischer Übersetzung; eine einheimische Publikation war nicht zu sehen.
Nehmen wir zugunsten von Andreea Chiricas Band einmal an, dass „The Year of the Pioneer“ längst vergriffen ist, denn erschienen ist er schon vor sieben Jahren. Wer sich ansehen will, wie er aussieht, hat leider auch wenig Chancen, denn auf der Website von Hardcomics (die seit zwei Jahren nicht mehr aktualisiert wurde) gibt es keinen Eintrag des Buchs, dafür aber einen über die 2016 erschienene jüngste Publikation der Zeichnerin, „Home Alone“ (https://hardcomics.tumblr.com/), die es aber in diesem Frühjahr auch nirgendwo in Bukarest zu sehen gab. Die meisten Bilder aus „The Year of the Pioneer“ im Netz habe ich hier gefunden, immerhin ein halbes Dutzend: https://omienouasute86.blogspot.de/. Da bekommt man zumindest einen Eindruck.
Mit dem „Jahr der Pionierin“ ist 1986 gemeint, als Andreea Chirica sieben Jahre alt war und in die für Kinder obligatorische kommunistische Pionierorganisation eintrat. Als Tochter einer Lehrerin und eines damals kranken, also nicht arbeitenden Vaters beschreibt sie den Alltag eines kleinen Mädchens im Rumänien unter Ceausescu. Da kann man die Sehnsucht nach westlichen Pop-Phänomenen ebenso vorgeführt bekommen wie den Stolz auf die rumänischen Sporterfolge (der Fußballverein Steaua Bukarest gewann damals den Europapokal der Landesmeister, den Vorläufer der heutigen Champions-League-Trophäe). Vor allem aber zeigt der Comic die aberwitzige Versorgungslage in einem Land, das keine Devisen für Importe hatte. Und die Lebensumstände der Bevölkerung, die einen erheblichen Teil ihrer Zeit damit verbringen musste, das nackte Überleben zu sichern, indem Nahrungsmittel und Brennstoffe zusammengetragen wurden.
Das Bemerkenswerteste an „The Year of the Pioneer“ ist indes die Erzählhaltung: aus der naiven Sicht der kleinen Andreea. Diese Perspektive aus Kindersicht hat seit Marjane Satrapis „Persepolis“ Schule gemacht, und Chiricas Comic verdankt dem französisch-iranischen Vorbild sehr viel. Zugleich merkt man dem Band aber an, dass er nicht aus einer intensiven Vertrautheit mit der Erzählform Comic entstanden ist – viel eher gleicht die Geschichte einer Abfolge von Cartoons wie in „Saint-Tropez“ von Sempé oder „The Party“ von Tomi Ungerer. Die meisten der querformatigen Seiten enthalten nur eine einzige Zeichnung, und nicht selten gibt es auch umfangreiche Erläuterungstexte, fast wie Tagebuchnotizen (ein erläuternder Anhang beschließt das Buch). So bekommt die Erinnerung der dreißigjährigen Zeichnerin an ihre Kindheit eine authentische, weil dilettantische Anmutung. Wobei dieser Dilettantismus gewolltes Kunstmittel ist, wie man einigen sehr ungewöhnlichen und gelungenen Bildkompositionen anmerkt. Andreea Chirica weiß genau, was sie tut.
Bei der Leipziger Buchmesse war kein einziger rumänischer Comiczeichner vertreten, und gerade weil dort Comics (und Manga) eine so große Rolle spielen wie sonst auf keiner anderen Buchmesse der Welt, fiel dieses Defizit deutlich auf. Als Publikationsform in prekären Gesellschaften sind gerade Comics gut geeignet, weil sie mit vergleichsweise geringen Mitteln hergestellt werden können und zugleich große Anschaulichkeit bieten, durch die subjektive Ästhetik der Zeichnungen aber niemals einen Wirklichkeitsanspruch wie Fotografien erheben. Deshalb ist Kritik in Comics leichter zu üben.
„The Year of the Pioneer“ ist ein wunderbares Beispiel dafür, denn die Geschichte vermittelt in kaum einer Stunde Lesezeit immens viele Detailinformationen über ein Land in einer spezifischen historischen, heiklen Situation. Mehr als dreißig Jahre nach diesem Zeitpunkt kann man daraus grundlegende Verständnishelfen für das Rumänien von heute gewinnen. Wenn man denn den Comic fände. Und da sind wir wieder am Anfang und beim eigentlichen Problem.