Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Berlin in die Hände der Spontis!

Berlin positioniert sich als deutsche Comic-Hauptstadt. Dafür gibt es gute Gründe. Vor allem all die Zeichner, die dort leben, denn immer noch ist die Metropole günstiger als die meisten westdeutschen Großstädte, und dass man dort viele Kollegen und einige der wichtigsten Verlagsadressen für deutsche Comics (Reprodukt, Avant, Egmont, Suhrkamp) findet, ist auch nicht zu verachten. Der Senat hat in diesem Jahr erstmal ein Stipendium für in Berlin ansässiger Zeichner ausgelobt, und den Hauptpreis gleich mit 16.000 Euro ausgestattet – was für ein paar Monate der höchstdotierte deutsche Comicpreis war, ehe die in Baden-Württemberg ansässige Berthold-Leibinger-Stiftung ihren Comicbuchpreis kurzerhand von 15.000 auf 20.000 Euro aufstockte.

Schön, wenn auch Wettbewerb unter Preisstiftern herrscht. Den Gewinnern kann es nur nutzen. Zumal Berlin auch noch gleich ein Auslandsaufenthaltsstipendium in Höhe von immerhin 15.000 Euro vergab und dazu noch zwei kleinere Stipendien von jeweils zweitausend Euro. Insgesamt wurden also 35.000 Euro vom Senat bewilligt. Und auch diese Gesamtsumme hat die Leibinger-Stiftung prompt übertroffen, indem sie die Prämien für die Finalisten ihres Wettbewerbs erhöhte. Bekamen die neun Kandidaten, deren Einsendungen gemeinsam mit dem Gewinner um den Hauptpreis konkurrierten, bislang jeweils tausend Euro, sind es nun zweitausend. Also beträgt die Gesamtsumme, die der Comicbuchpreis ausschütter, 38.000 Euro. Nun ist wieder der Senat unter Zugzwang.

Das erste Berliner Comicstipendium hat Michael Ross erhalten (der unter dem Namen Mikael Ross zeichnet). Er lebt – satzungsgemäß – in Berlin, doch entdeckt wurde er in Frankreich, bis Avant seine Titel ins Programm nahm. Der Prophet gilt wenig im eigenen Land, und das ist in Berlin nicht anders. So mag es auch zu erklären sein, dass ein waschechter Berlin-Comic (Zeichner lebt dort, Handlung spielt dort) nicht bei einem Verlag aus der Hauptstadt gelandet ist, sondern beim Leipziger Winzverlag Trottoir Noir. Die Rede ist von Andreas Meiers „Tempelhoven“.

Meier, Jahrgang 1978, stammt aus Dresden, arbeitet aber seit zehn Jahren in Berlin. Und er hat sich in diesen zehn Jahren ganz offenbar in Berlin verguckt. Wie es so ist mit einer großen Liebe, möchte man, dass sich nichts an ihr ändert. Berlin allerdings verändert sich rasant. Meier wohnte dort in der Hauptstraße 1, „dem kleinesten Kiez Berlins“, wie er selbst schreibt, „die perfekteste Adresse“. Nun gibt es in Berlin ein paar Hauptstraßen. Ob also Meier in Schöneberg, Pankow oder Lichtenberg wohnte – ich weiß es nicht. Mutmaßlich dürfte für alle drei Möglichkeiten der melancholische Satz gelten, mit dem Meier seine Reminiszenz an die eigene frühere Adresse schließt: „Sie geht den Weg, den alles geht.“

Also haben wir es mit einem Nostalgiker zu tun, der den guten (das heißt wilden und billigen) Tagen in der Bundeshauptstadt nachtrauert. Das ist legitim. Vor allem, wenn man die Trauer produktiv und einen Band wie „Tempelhoven“ daraus macht. Dem merkt man Meiers Verachtung für die Gentrifizierung Berlins nämlich nur zu gut an. Und passend zu dieser Haltung sind auch seine Zeichnungen wild und spontan, nämlich mit Bleistift angelegt – „ungefiltert und direkt aus dem Skizzenbuch“, wie der Klappentext verspricht. Mag sein, jedenfalls benutzt Meier dann großformatige Skizzenbücher. Wie das genau aussieht, muss man sich vorstellen, denn als ordentliche Gegner jeder Form von Kommerzialisierung haben Verlag und Zeichner so wenig wie möglich aus ihrem Band ins Netz gestellt: das Cover und zwei Seiten unter https://www.trottoirnoir.de/?page_id=300. Dort ist auch die Bestelladresse zu finden; es glaube nur niemand, dass man „Tempelhoven“ etwa bei Amazon bekäme.

Konsequente Verweigerung also, ganz so wie die drei wichtigsten Protagonisten von Andreas Meiers Comic sich dem schicken Berlin verweigern. Da ist der namenlose Ich-Erzähler, der in einem leicht heruntergekommenen Innenstadtviertel lebt. Im selben Haus sind auch Kai und Caro (nur Mitbewohner, kein ansässig: sie eine bildhübsche Powerfrau (so recht nach dem Geschmack des Erzählers), er ein manischer Ladendieb, der sich im Laufe der Jahre einen Warenbestand zusammengeklaut hat, mit dem man jede Katastrophe überleben würde. Und prompt kommt genau darauf die Probe, denn eines Tages tritt in bestimmten Teilen Berlin eine kollektive Ohnmacht auf, und aus Angst vor dem, was dieses Ereignis ausgemacht hat, verrammeln sich alle in ihren vier Wänden – ohne dass sie wüssten, was es denn nun war. Man lebt wie in einer Endzeit-Stadt: Plünderungen und Hamsterkäufe sind gängig. Da kommt Kais unerschöpflicher Warenvorrat gerade recht.

Irgendwann funktioniert auch das Internet nicht mehr, und fortan ist Berlin im Ausnahmezustand. Mittendrin Caro und der Erzähler, die sich gemeinsam aufgemacht haben, um durch das Chaos zum ehemaligen Flughafen Tempelhof zu wandern, dessen Flugfeld der Regierende Bürgermeister Wowereit – ja, der ist wieder da – in einem Günther-Schabowski-Moment spontan zur Besiedelung freigegeben hat. Die dort sofort entstehende Hüttengemeinde nennt sich selbst Tempelhoven, und was dort und drum herum passiert und warum, das muss man selbst lesen, denn die 140 Schwarzweißseiten sind gepackt voll mit Ereignissen.

Die Spontaneität der Zeichnungen von Andreas Meier folgen einem Trend der letzten Jahre: Bleistift ist eh Trumpf unter deutsche Comiczeichnern, und Skizzenbuch-Ästhetik hat den Anschein von Authentizität und wird dementsprechend oftmals suggeriert (Pionier dabei war der Kanadier Seth, dessen angeblich Notizbuch-Comics tatsächlich alle fein säuberlich kleinformatig auf Einzelblättern angelegt sind). Aber egal, wie sich im Falle von „Tempelhoven“ verhält: Meiers Erzählstil beschwört den Charme der Independent-Szene herauf, die Freiheit, die Robert Crumb oder Moebius in ihren Anfangszeiten in den Comic brachten. Der Amerikaner und der Franzose sind zwar die viel besseren Zeichner, aber Meier arbeitet in ihrem Geist. Schön, dass etwa seine Hauptfigur am Anfang der Geschichte einen Sturz erlebt, der an „John Difool“ von Moebius erinnert.

Zwischendurch ist reichlich Gelegenheit für die „Tempelhoven“-Protagonisten, gegen die Yuppies zu wettern und den hektischen Lebensrhythmus der Großstadt zu beklagen. Das liest sich dann wie die alten Sponti-Comics von Gerhard Seyfried. Aber was ist daran falsch? Fragt sich nur, warum sich dafür kein Berliner Verlag gefunden hat. Es hätte ja auch ein kleiner sein können. Auch wenn ich nicht in den Chor derjenigen einstimme, die Leipzig für das bessere Berlin halten, ist es doch derzeit der kreativere Ort für Comics – siehe Anna Haifisch, Max Baitinger, Phillip Janta, Matthias Lehmann. Meine Einschätzung resultiert also nicht nur aus der Tatsache, dass „Tempelhoven“ in Leipzig verlegt wurde. Aber ein bisschen doch auch.