Wissen wir etwas über den Alltag all der Menschen, die dafür sorgen, dass unser Alltag nicht auseinanderbricht? Etwa über die vielen Pflegekräfte, die aus anderen Ländern nach Deutschland kommen, um hier unsere Kranken und Alten zu betreuen, während in ihren Heimatländern die Familien auf sie verzichten müssen – weil hierzulande vergleichsweise so gut bezahlt wird, dass die Einnahmen das Leben der Angehörigen dort gewährleisten? Aber kann man eine so einfache Gleichung aufstellen? Bleiben nicht viele Variablen darin nur so lange bestimmbar, wie sie in Geld quantifizierbar sind? Und was, wenn sich genau das ändert?
Viele Fragen, und der in der Edition Moderne erschienene Comic „Ferngespräch“ von Sheree Domingo erhebt nicht den Anspruch, sie alle beantworten zu können. Aber er führt vor, dass sie wichtig sind, wenn es uns darum geht, dass wir es auf beiden Seiten, bei Pflegekräften und Gepflegten, mit Menschen zu tun haben, deren gutes Verhältnis zueinander elementar dafür ist, dass die Beschäftigung überhaupt Sinn ergibt. Sheree Domingo hat durch ihre Mutter, eine Filipina, unmittelbare Anschauung erhalten, was einerseits die Entwurzelung von Arbeitskräften, die ins Ausland gehen, für sie bedeutet und andererseits die Einbindung in ein neues soziales Umfeld auch kompensieren kann: Sheree Domingos Mutter hat einen Deutschen geheiratet. Doch die Bindung an Heimat und Familie war notgedrungen gestört. Im Nachwort schreibt die 1989 in Böblingen geborene Zeichnerin, dass sie ihre philippinische Großmutter nie kennengelernt hat.
Das ist wichtig zum Verständnis des Comics „Ferngespräch“, der eine autobiographisch grundierte, aber nicht selbst erlebte Geschichte erzählt: Zwei philippinische Schwestern, beide vor vielen Jahren zur Versorgung ihrer Familie nach Deutschland gegangen, erfahren vom nah bevorstehenden Tod ihrer Mutter. Eine von beiden ist in der Altenpflege tätig und hat eine kleine Tochter. Als es darum geht, wer also auf die Philippinen fliegen kann, um die Mutter noch einmal zu sehen, bricht die kinderlose Schwester auf. Die eigentliche Hauptfigur aber ist das kleine Mädchen, das sich Begegnungen mit der fernen Großmutter erträumt und zugleich als Begleiterin ihrer Mutter im Pflegeheim eine Art Kompensation für das familiäre Defizit findet.
Denn dort freundet sie sich mit einer alten deutschen Dame an, die mehr oder minder von ihrer Familie ins Heim abgeschoben wurde und nun plötzlich für das Mädchen zu einer neuen Bezugsperson wird – eine Rolle, die vorher die nun abwesende Tante eingenommen hatte, und zugleich auch ein Ersatz für die fehlende eigene Großmutter. Man kann „Ferngespräch“ als optimistische Geschichte lesen, weil sie mehrere Generationen von Frauen (Männer haben in diesem Comic so gut wie keine Bedeutung) miteinander ins Gespräch bringt und eine Kindertraum illustriert, den wir nur zu gerne wahr werden sähen. Aber zugleich lässt Sheree Domingo durch die Genauigkeit ihrer psychologischen Porträts auch keinen Zweifel an den Ausnahmezuständen ihrer Protagonistinnen, die leider im gesellschaftlichen deutschen Leben keine Ausnahmen sind.
In einen winzigen Konstellation wird hier die ganze Welt erzählt, weil Armut, Migration, Geschlecht und Alter die bestimmenden Faktoren für das ganze Geschehen sind. Und das in einer grenz-, ja kontinenteübergreifenden Handlung. Aber Sheree Domingo moralisiert nie, sie lässt uns unsere eigenen Schlüsse auf der Grundlage knapp umrissener und desto interessanterer Schicksale ziehen. Das ist eine große Leistung für ein Comicdebüt. Und eine große Herausforderung. Nun hat die Zeichnerin das große Thema der eigenen Familienbiographie erzählt. Wird das in den hinreißend kolorierten Bildern (einen Eindruck bekommt man hier: https://www.editionmoderne.ch/de/80/leseprobe/343/ferngespraech.html) dokumentierte graphische Talent von Domingo einen neuen Gegenstand finden? Noch eine hochspannende Frage, deren Beantwortung im günstigen Fall ein großes Glück für die deutsche Comicszene werden könnte.