Drei Langzeit-Comicprojekte, denen ich jeweils seit mehr als zwei Jahrzehnten fanatisch folge, gehen nun in kurzer Abfolge zu Ende. Es begann im vergangenen Jahr mit „Berlin“ von Jason Lutes, der in seiner seit 1998 publizierten und zuletzt die Nummer 22 erreichenden Heftserie ein gigantisches deutsches Gesellschaftspanorama der späten Weimarer Republik entwickelt hat: mehr als sechshundert Seiten, schwarzweiß-streng und kleinformatig und tatsächlich jetzt zu Ende. Dann ist da die im gleichen Jahr begonnene Proust-Adaption von Stéphane Heuet, der sich im Prozess der Arbeit daran von der Vorstellung verabschiedete, die ganze „Suche nach der verlorenen Zeit“ in Bilder zu setzen, weshalb im kommenden Mai nun mit dem achten Comicalbum bei etwas mehr als vierhundert Seiten ein Abschluss gefunden werden soll, der immerhin die zwei ersten Romane des insgesamt siebenbändigen Zyklus vollständig umfassen würde – großformatig farbig und höchst opulent. Und dann startete 1999 „The League of Extraordinary Gentlemen“, eine in verschiedene Miniserien unterteilte gigantische Abenteuererzählung, die Alan Moore schrieb und Kevin O’Neal zeichnete. Nun ist als letztes Wort daraus die sechsteilige Geschichte „The Tempest“ als Sammelband erschienen: klassisches amerikanisches Heftformat, aber so detailreich gestaltet wie nur irgend möglich. Unterschiedlicher als diese drei Riesenvorhaben können Comics kaum aussehen.
Die „League“ war von den drei Vorhaben eindeutig das durchgeknallteste Projekt, weil es zu einer Zeit entstand, als sich Alan Moore alles leisten konnte; mit ABC (America’s Best Comics) hatte er sogar einen Verlag, der nur Moores Comics verlegte. Den brauchte erdamals auch, weil er so sauer auf seinen früheren Arbeitgeber, den Comicgroßverlag DC, war, nachdem der Moores und Dave Gibbons’ epochemachende Serie „Watchmen“ in jeder Hinsicht vermarktet hatte – und Moore hasst Vermarktung, vor allem Verfilmungen und Comicfortsetzungen, die nicht in seiner eigenen Regie entstehen. Bei „Watchmen“ widerfuhr ihm beides, und das bei einem Projekt, in das er alles gesteckt hatte, was er an Liebe zur Comicgeschichtsschreibung (was hier heißt: Superheldengeschichtsschreibung) zu bieten hatte, und das war viel. „The League of Extraordinary Gentlemen“ nahm dann noch einmal das Erzählprinzip von „Watchmen“ auf: metareferenziell und neunmalklug. Wobei man Moore eher neunzigmalklug nennen müsste.
Trauriges Resultat: Auch „The League of Extraordinary Gentlemen“ wurde gegen seinen Willen verfilmt, 2003, mit Sean Connery in einer Hauptrolle, dem letzten einigermaßen ordentlichen Auftritt, den der Star hingelegt hat. Moore tröstete das nicht, es gab wie bei „Watchmen“ langjährige juristische Auseinandersetzungen, und darüber wäre fast auch die „League“ gestorben. Aber diesmal hielt Moore seiner Serie und wohl auch seinem jahrzehntelangen Zeichnerpartner O’Neill die Treue. Der vierte und fünfte Zyklus im Gesamtvorhaben – „Century“ und „Nemo“ betitelt – kam beim Independent-Verlag Top Shelf heraus, und hat nun auch „The Tempest“ verlegt.
Das wichtigste Prinzip der „League of Extraordinary Gentlemen“ ist ihr pop- oder besser: pulpkultureller Reichtum. Die titelgebende Liga besteht aus lauter literarischen Figuren aus der populären Literatur: Allan Quatermain (aus Henry Rider Haggarts Abenteuerserie), Mina Harker (aus Bram Stokers Roman „Dracula“), Doktor Jeckyll (nach Stevenson, natürlich inklusive Mr Hyde), der Unsichtbare Mann (nach H.G. Wells), Kapitän Nemo (nach Jules Verne) und über die sechs Erzählzyklen noch einige mehr. Im Laufe der sich über Jahrzehnte erstreckenden Handlung segnete der eine oder andere von ihnen das Zeitliche, nur Mina Harker blieb eine konstante Größe, und mittlerweile ist ihr Virginia Woolfs Romanheld/in Orlando an die Seite getreten. Sie sind denn auch die zentralen Heldinnen in „The Tempest“, wobei als dritte Frau noch Emma Knight (der Mädchenname von Emma Peel aus der Fernsehserie „Mit Schirm, Charme und Melone“) dazukommt – die Extraordinary Gentlemen sind mittlerweile Extraordinary Ladies. Und Racheengel der Geschichte.
Mores Geschichten nachzuerzählen ist ebenso unmöglich wie im Fall der Romane von Dietmar Dath (die ohnehin viele Gemeinsamkeiten mit den Mooreschen Comics haben, weil beide Autoren so viele Vorlieben teilen); es sei denn auch gar nicht erst versucht. Und O’Neills überbordende Bilder entziehen sich auch fast jeder Beschreibung (so sehen sie aus: http://www.topshelfcomix.com/catalog/league-of-extraordinary-gentlemen-the-vol-iv-the-tempest-1-of-6/982). Was diesmal aber besonders ist, sind die Reminiszenzen an die Comicvergangenheit. Da gibt es mitten in der Geschichte eine Episode, die als schwarzweiße Tagesstreifen im Stil von Alex Raymond erzählt werden. Natürlich gibt es eine Hommage an „Little Nemo“, und die Superheldenästhetik des Silbernen Zeitalters kann man auch finden. Kein Wunder, spielt doch die Handlung von „The Tempest“ nicht nur 2009/2010 (Hauptstrang, sondern auch Anfang der sechziger Jahre. Und eine kleine Weile auch kurz vor der Wende ins dritte Jahrtausend, denn aus der Zukunft kommt in schönster Zeitreisemanier ein Heldenpaar, das die Etablierung einer kosmischen Diktatur verhindern will, indem sie deren längst vergangenen Anfängen wehrt. Aber jetzt sind wir schon wieder viel zu tief im Stoff.
Großartig ist die Einbeziehung der unterschiedlichsten literarischen Ebenen, etwa der James-Bond-Welt des Ian Fleming und des – klar, was sonst? – „Sturms“ von Shakespeare. Prospero tritt hier als der größte Unruhestifter auf (in einer Welt aus 3D-Zeichnungen, wie wir sie schon im „Black Dossier“, dem dritten Zyklus der „League“ kennengelernt haben), und James Bond erweist sich als der dämonische Unhold in „The Tempest“. Wir treffen aber auch auf Astroboy oder die Panzerknacker, und nicht zuletzt auf Jerry Cornelius, den Science-Fiction-Helden von Michael Moorcock, der auch schon in „Century“ einen fulminanten Jugendauftritt hatte und nun als Greis die Welt noch einmal mitretten darf. Hier ist also alles versammelt, was Moore jemals fasziniert hat, und nicht zuletzt treten auch er selbst und Kevin O’Neill in einem wunderbaren Epilog auf, denn schließlich haben beide angekündigt, dass nach Abschluss von „The Tempest“ auch mit ihren jeweiligen Comic-karrieren Schluss sei. Nun, Moore hat so etwas schon öfter gesagt. Aber noch niemals hat er das eigene Ende auch zeichnen lassen.
Alles nachvollziehen zu können, was in „The Tempest“ geschieht, ist eine illusionäre Hoffnung. Aber für jeden dürfte etwas dabei sein, so lange man sich nicht durch die schiere Text- und Bildmasse abschrecken lässt. Einen vollen Tag für die Lektüre für die 240 Seiten des Buchs sollte man schon haben. Und wenn man gar alles von der „League of Extraordinary Gentlemen“ noch einmal lesen wollte, sollte man wohl eine Woche freinehmen. Dafür bekäme man dann aber auch ein Comic-Wunder- und -feuerwerk geboten, wie es so bald kein neues mehr geben wird. Es sei denn, Alan Moore vollzöge den Rücktritt vom Rücktritt.