Dada? Da war doch was. Vor vier Jahren wurde allenthalben der hundertste Geburtstag dieser spartenübergreifenden Nonsens-Kunstrichtung gefeiert. Das dafür herangezogene Datum war die Eröffnung des Cabaret Voltaire in Zürich am 5. Februar 1916, mitten im Ersten Weltkrieg. Beteiligt waren daran in den Folgemonaten noch heute allgemein bekannte Künstler wie Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Tristan Tzara. Aber wer kennt Emmy Hennings, die Frau von Hugo Ball, eine Diseuse von Rang, und das schon vor dem Cabaret Voltaire; sie hatte bereits in Berlin und München Erfolge gefeiert. Man könnte sagen, sie war damals die einzige Berühmtheit unter den Dadaisten. Aber der Rest überholte sie. Männer merkt sich die Kunstgeschichte leichter.
Ein Jahr nach dem Dada-Jubiläum kam in Spanien ein Comic heraus, der den Titel „El Ángel Dadá“ trug (interessant, wie die Spanier „Dada“ betonen). Dieser Dada-Engel ist Emmy Ball-Hennings. Warum sie auf dem Titelbild unter diesem Namen firmiert, obwohl sie Ball erst 1920 heiratete, zu einer Zeit, um die es nur auf den letzten zwölf von 230 Seiten des Comics geht, ist kein Rätsel: Weil man bei „Ball-Hennings“ wenigstens an Hugo Ball denkt. Na ja, wenn’s der Werbung für die Sache dient … Immerhin ist der 2017 schon leicht verspätete Comic jetzt noch etwas später ins Deutsche übersetzt worden, unter dem Titel „Alles ist Dada“. Es ist ja nie ganz zu spät für eine Wiedergutmachung an einer zu Unrecht vergessenen Persönlichkeit.
Aber würde sie ihr doch nur gerecht! Die beiden Autoren, der Szenarist Fernando González Viñas und der Zeichner José Lázaro, sind aber von allen guten Geistern verlassen. Vielleicht liegt es daran, dass sie zu wenig Comicerfahrung haben, obwohl sie schon vor sechs Jahren zusammen einen gemacht haben: über einen Beat-Musiker im Deutschland der sechziger Jahre, „El Último Yeyé“. Fasziniert von deutschen Kulturthemen scheinen sie also zu sein, und Viñas hat auch mehrere Bücher von Emmy Hennings ins Spanische übersetzt, darunter ihren autobiographischen Roman „Gefängnis“ und die Tagebücher. Blendende Voraussetzungen für eine Comicbiographie somit. Und doch läuft die Geschichte ab, wie auf dem Reißbrett erstellt. Keine einzige inhaltliche Überraschung. Und das gilt auch, wenn man wie ich vordem so gut wie nichts über Emmy Hennings wusste.
Dazu kommen Lázaros Bilder, probeweise anzusehen unter https://www.avant-verlag.de/comics/alles-ist-dada/. Sie sind in Bleistift ausgeführt und offen gehalten, also ohne Panel-Umrahmung. Das heißt, die Seitenarchitektur muss die Bilder zusammenhalten, aber wenn man dann fast alles in einem monotonen Drei-Reihen-Schema anlegt mit meist nur einem Bild pro Reihe, stellt sich kein variierter Erzählrhythmus ein, und die Lektüre wird ermüdend. Es gibt zwar Zeichner, die auch (oder sogar gerade) mit einem monotonen Panel-Arrangement auf diese Weise Spannung erzeugen – das beste Beispiel ist Lorenzo Mattotti –, aber die Graphik von Lázaro bietet dafür zu wenig Individualität. Seine gelegentlichen Bemühungen, sich der Ästhetik der Handlungszeit seines Comics anzupassen, überzeugen wenig. Das einzige gelungene Beispiel ist bezeichnenderweise eine ganzseitige Zeichnung, in der er ein zusammengesetztes Porträt von Hugo Ball im Stil bietet: Kopf im Dada-Stil, Torso antikisch und Unterleib à la George Herrimans Comic „Krazy Kat“. Nicht nur, dass hier einmal die übliche Dreiteilung der Seiten klug persifliert wird, es wird auch dem Dada-Gedankengut gerecht. Doch das müsste der ganze Comic tun.
Was mag den ambitionierten Avant-Verlag dazu getrieben haben, diesen Comic übersetzen zu lassen? Einmal natürlich der derzeitige Trend zu Comic-Künstlerbiographien, den Avant selbst entscheidend mitbefeuert hat. Dann die leider oft nur modische Entdeckung vergessener Künstlerinnen, wobei man mit Emmy Hennings einen durchaus lohnenswerten Gegenstand hat. Aber ihr ästhetischer Rang wird nur behauptet, nicht vom Comic sichtbar gemacht. Es hätte viel mehr Originaltext eingebaut werden müssen, und Viñas wäre als Hennings-Übersetzer doch der richtige Mann dafür gewesen. Und schließlich gibt es als Grund noch das Interesse von Avant an der spanischsprachigen Comicwelt. Aber da wären weiß Gott bessere Entdeckungen zu machen gewesen als „Alles ist Dada“. Mutmaßlich hat man sich durchs „deutsche“ Thema blenden lassen.
André Höchemers Übersetzung ist gewohnt zuverlässig, aber hat niemand gemerkt, was für Klöpse im Originaltext stehen? Die darf man dann eben nicht zuverlässig übersetzen. So etwa die Behauptung, mit der „Dicken Bertha“, einer gigantischen Kanone, wäre im Ersten Weltkrieg England beschossen worden. Die Erste Internationale Dada-Messe fand 1920 in Berlin statt, also nicht während des Kriegs, wie der Comic suggeriert. Und als Hermann Hesse Emmy Hennings kennenlernte, war die Arbeit an seinem Roman „Siddharta“ schon lange begonnen – anders, als „Alles ist Dada“ (und wohl auch Emmy Hennings selbst) behaupten.
Die Künstlerbiographienwelle im Comic ist eine der unerfreulichsten Erscheinungen des Graphic-Novel-Booms. Weil zu viele Autoren glauben, die Faszination ihres Gegenstands reiche schon. Es ist ganz anders: Je faszinierender die porträtierte Persönlichkeit, desto besser muss auch der Comic über sie sein. Sonst zerstört die Diskrepanz von Thema und Ausführung die Wirkung. In „Alles ist Dada“ kann man das exemplarisch besichtigen.