Am 12. Dezember ist der Fußball gestorben. Der französische Schriftsteller Patrick Cauvin nannte kein konkretes Jahr dazu, nur einen Abstand von 23 Jahren zur nicht genau datierten Rahmenhandlung von „Abseits“ (im Original „Hors jeu“), einem Bilderbuch, das er geschrieben und der Comiczeichner Enki Bilal illustriert hat. Darin stellt ein greiser Sportreporter namens Stan Skavelicz, der sich als Letzter seiner Art bezeichnet, irgendwann in der Zukunft (das Jahr wird „75“ genannt) für den Bezahlfernsehsender Delta Work 3 die größten Momente zusammen, die er auf dem Platz beobachtet hat. Der Sender will daraus eine Dokumentation zusammenschneiden, die Teil einer Reihe werden soll, die sich mit verschwundenen ehemaligen Massenphänomenen befasst: mit Kino, Musik und eben auch Fußball.
„Abseits“ ist 1987 in Frankreich erschienen und wirkt im Rückblick geradezu prophetisch, auch wenn zumindest heute in Deutschland der Fußball wieder lebendig werden soll, weil die Deutsche Fußball Liga ihren unterbrochenen Spielbetrieb fortsetzen will. Doch der Tod des Fußballs ist mittlerweile ebenso vorstellbar geworden worden wie der des Kinos oder der (Live-)Musik. Wobei es in „Abseits“ natürlich kein Virus war, dessen Ausbreitung die alten Volksvergnügungen ausgelöscht hat. Im Falle des Fußballs war schuld daran dessen Verwandlung in ein reines Kommerzprodukt, das immer mehr Spektakel und immer skrupellosere Vermarktung verlangte. „Die neuen Gladiatoren – wie die Medien sie nennen – sind im Kommen. Der Söldner-Fußball entsteht“, erinnert sich Skavilecz gleich zu Beginn der Erzählung. Als Cauvin ihm diesen Satz in den Mund legte, lag das Bosman-Urteil, das die Explosion von Ablösesummen und Spielergehältern auslöste, noch acht Jahre in der Zukunft.
Nach mittlerweile mehr als dreißig Jahren wird heute auf den deutschen Bildschirmen ein weiteres Element von Skavileczs Niedergangs-Chronik des Fußballs Realität. Zum von Bilal in seinem emblematischen, am Sozialistischen Realismus orientierten Stil gezeichneten Bild eines Länderspiels zwischen Albanien und Schweden erklärt der ehemalige Reporter im Buch: „Ein Detail ist unübersehbar: Es gibt im Stadion keine Zuschauer mehr. Es wird sie nie wieder geben.“ Wer sich ansehen will, wie das in einem betonbrutalistischen Zweckbau aussieht, kann das hier tun: https://reader.izneo.com/read/9782203166325?exiturl=https://www.izneo.com/de/europaische-comics/sci-fi/hors-jeu-11513/hors-jeu-28175. Man muss diesen Auszug aus dem Buch mit acht Klicks bis zum letzten Bild, dem zum Kapitel „Ordonnace 20-27, durchblättern. Die Leseprobe ist anlässlich der französischen Neuausgabe von „Hors jeu“ beim Verlag Casterman vor zwei Jahren erstellt worden. Den Hinweis auf das Bild verdanke ich aber einem Kenner der deutschen längst vergriffenen Ausgabe von 1992, dem F.A.Z.-Leser Axel Mensch, der mich kürzlich auf die Parallele aufmerksam gemacht hat.
In „Abseits“ sind solche Geisterspiele die Folge des Ungleichgewichts zwischen Stadion- und Fernsehpublikum. Man kann den finanziellen Aufwand, den die Gewährung der Sicherheit auf den Tribünen verlangt, nicht mehr vertreten, weil doch längst die meisten Zuschauer von daheim aus zusehen. Für die heutige Wiederaufnahme des Spielbetriebs der Bundesliga gibt es ökonomische Gründe, die genau diesem Muster entsprechen: Was interessieren die Zuschauer in den Stadien, wenn das dicke Geld doch mit denen vor den Bildschirmen erzielt wird? Die Deutsche Fußballliga schiebt nur noch das Argument dazwischen, dass Vereine in ihrer Existenz bedroht seien, um die wirklichen Fans, die bislang auf den Tribünen saßen, zum Stillhalten zu bewegen.
Etliche andere Phänomene des heutigen Geschäftsbetriebs Fußball hat „Abseits“ ebenfalls vorweggenommen: Videobeweise, Doping, Spielmanipulation durch Wettkonsortien, Verlagerung von Länderspielen in extreme Klimazonen allein zu Marketingzwecken. Was der 2010 verstorbene Cauvin, der eigentlich Claude Klotz hieß und nicht nur als Schriftsteller erfolgreich war, sondern auch als Drehbuchautor, dem Fußball 1987 noch weiter prophezeit hat? Zum Beispiel elektrische Strafimpulse für einzelne Spieler nach taktischen Fehlern, Protheseneinsatz zur Leistungssteigerung oder die Einbunkerung von Schiedsrichtern zum Schutz vor Übergriffen. So weit sind wir noch nicht. Die Mehrzahl jedoch von dem, was er sich damals einfallen ließ, ist mittlerweile eingetroffen, die Geisterspiele von heute sind nur der nächste Schritt. Allerdings endet „Abseits“ mit einer hoffnungsvollen Vision für den Fußball – irgendwo beim Spiel von ein paar Kindern im Niemandsland, weitab des großen Geschäfts. Im Abseits wird der Fußball also wieder zum Mittelpunkt.