Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Nicht nur Familienfrage, sondern eine des ganzen Landes

Dass sich eine junge deutsche Comiczeichnerin heute für die Frage von Kriegsdienstverweigerern interessiert, durfte man aus mehreren Grünen für unwahrscheinlich handeln. Es gibt gar keine Wehrpflicht mehr in Deutschland, als es sie noch gab, betraf sie nur Männer, und die wirklich harte gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Frage liegt ungefähr vier bis fünf Jahrzehnte zurück. Trotzdem hat sich Hannah Brinkmann, Jahrgang 1990, des Themas angenommen. Der Grund dafür ist entgegen allen Erwartungen autobiographisch: Ihr Onkel Hermann wollte 1973 den Kriegsdienst verweigern, kam damit aber nicht durch. Nach dreieinhalb Monaten als Soldat brachte er sich um.

Der Fall machte damals Schlagzeilen, weil die Familie in den Todesanzeigen für Hermann Brinkmann andeutete, dass man sowohl bei den Verhandlungen über den Verweigerungsantrag als auch bei späteren medizinischen Untersuchungen während der Dienstzeit weder die Gewissensbedenken des jungen Mannes noch seine psychische Belastung ernst genommen hatte. Aus dem individuellen Drama entstand eine allgemeine Debatte, die zu einem Umdenken zumindest beim Ersatzdienst führte: In der zweiten Hälfte wurde er erleichtert und vor allem gesellschaftsfähig. Der Tod von Hermann Brinkmann mag nicht als politisches Zeichen gedacht gewesen sein, aber er hatte politische Wirkung.

Hannah Brinkmann wusste nichts davon, denn als sie Kind war, wurde über den toten Onkel in der Familie nicht mehr gesprochen. Zu groß war das Leid für die Eltern und Hermanns vier Geschwister gewesen, zu traumatisch auch die damalige Presseberichterstattung. Doch nach dem Tod ihrer geliebten Großmutter im Jahr 2004 fand Hannah Brinkmann Fotos und Dokumente, die ihr die Geschichte des Onkels nahebrachten, und 2015 entschloss sie sich, aus ihr einen Comic zu machen. Fünf Jahre hat die Arbeit daran gedauert, zwischendurch erhielt das Projekt einen der Comicförderpreise der Berthold-Leibinger-Stiftung. Nun ist „Gegen das Gewissen“ erschienen, und er ist eine Sensation.

Zunächst einmal natürlich der Geschichte selbst wegen, die Brinkmann so intensiv erzählt, als hätte sie ihren Onkel noch selbst kennengelernt. Charakter und Motivation des 1955 geborenen Hermann werden im buchstäblichen Sinne anschaulich, und wenn Hannah Brinkmann an den Schluss ihres Bandes ein Foto des schlaksigen jungen Mannes setzt, glaubt man, mit diesem Menschen längst vertraut umgegangen zu sein. Die familiäre Recherche, die in den Comic einging, kann man da ahnen.

Doch das noch Bemerkenswertere an dem Buch ist seine Form. 230 Seiten, die meisten davon als im besten Sinne plakative Arrangements mit wenigen Bildern, oft sogar nur einem, und aufgebaut ist alles sowohl einfalls- als auch abwechslungsreich. Das geht gleich zu Beginn los: mit der Parallelmontage eines Radiobeitrags von 1956 (dem Jahr der Gründung der Bundeswehr) über die Frage des im Grundgesetz garantierten Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und der letzten Minuten im Leben von  Hermann Brinkmann am 20. Januar 1974. Links auf den Doppelseiten wird also die Vorgeschichte erzählt, rechts das Resultat. Links wird die sachliche Zusammenfassung in einem symbolreichen Stil illustriert, die ihre Vorbilder in Jacques Tardi und Igort hat; rechts läuft eine stumme Sequenz ab, die den Tod mit einer Dezenz schildert, die bereits die Sensibilität ahnen lässt, mit der Hannah Brinkmann dann den Hauptteil des Geschehens erzählt.

Die Leseprobe des Avant-Verlags (https://www.avant-verlag.de/comics/gegen-mein-gewissen/#cc-m-product-8987786420) ist konfus, denn sie bietet einen Querschnitt, der nicht der Reihenfolge im Buch folgt; die letzten vier Seiten entstammen der Eingangssequenz. In ihrer Auswahl kann man aber die Vielfalt der verwendeten seitenarchitektonischen Mittel erkennen, und es gibt im Band selbst diesbezüglich noch mehr zu entdecken. Höhepunkt ist in der Mitte des Comics die Schilderung der ersten Verhandlung über den Verweigerungsantrag im Kreiswehrersatzamt: Hannah Brinkmann wählt dazu eine braune Umrahmung der eigentlichen Seitenarchitektur und schneidet in die Dialoge mit dem Richter (natürlich einem ehemaligen Bundeswehroffizier) Gedankensplitter des an seiner Ehrlichkeit scheiternden Hermann ein, ehe sie ihn in seiner Hilflosigkeit ganz abdriften lässt in eine psychedelische Traumvision, die vorausweist auf die psychische Verstörung, die ihn wenig später das Leben kosten wird.

Der Alltag der siebziger Jahre ist akribisch rekonstruiert, manche Panels zum Familienhaus der Brinkmanns sind veritable Fundgruben an Details zu Mobiliar oder Popkultur der Zeit. Davor agieren Figuren, die bewusst holzschnittartig gezeichnet sind – es bewegt sich nicht viel in den Gesichtern dieser Personen, aber das macht so nur noch eindrucksvoller und wiederkennbarer, auch über Jahrzehnte hinweg, denn Hermanns Angehörige werden in einem Abstand von erst zwanzig und dann vierzig Jahren auftreten, um Hannah Brinkmanns Motivation zur Anfertigung des Comics klarzumachen. Und wie in diesen über den gesamten Band verteilten Einschüben schon Spuren gelegt oder später wiederaufgenommen werden, das ist sowohl zeichnerisch wie erzählerisch höchst geschickt gemacht.

Es ist ein reifer Debütband einer Autorin, die bislang nur durch Kurzgeschichten, unter anderem in „Strapazin“ oder der „taz“ aufgefallen war. Aber man merkt den inspirierenden Einfluss der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften, an der Hannah Brinkmann bei Anke Feuchtenberger studiert hat. Einmal mehr zeigt sich dieser Einfluss nicht in einer graphischen Handschrift, sondern in der Eigentümlichkeit des persönlichen Tons – als läse man das Werk einer alten Bekannten. Diese unmittelbare Vertrautheit mit Gegenstand und Erzählweise zu erzeugen, ist die größte Leistung von „Gegen das Gewissen“.