Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Italienischer Wackerstein als Meilenstein

Wenn es eine große Comicnation gib, die in Deutschland immer noch sträflich vernachlässigt wird, dann Italien. Nicht, dass keine italienischen Comics übersetzt würden, im Gegenteil sind es sogar vergleichsweise viele, aber das Gros davon fällt auf die monatlich erscheinenden „Lustigen Taschenbücher“ mit Disney-Geschichten, die es seit 1967 auf nunmehr 538 Ausgaben gebracht haben, jede mehr als 250 Seiten stark. Disney aus Italien? Ja, denn in keinem anderen Land der Welt werden so viele Entenhausener Geschichten gezeichnet. Und nirgendwo sonst im Taschenbuchformat, das seit den vierziger Jahren in Italien Standard für Disney-Publikationen ist und deshalb auch eine dermaßen große Eigenproduktion erforderte. Und nirgendwo sonst wurde dieses Format wiederum so begeistert aufgenommen wie in Deutschland.

Aber solche Comics meine ich nicht, obwohl einige davon zum Besten zählen, was der Disney-Kosmos zu bieten hat. Sondern das Erwachsenensegment, und damit ist nun auch nicht das gemeint, was dabei Comicfreunden sofort in den Sinn kommt: Drastik in Gewalt („Diabolik“) oder Sexualität (Guido Crepax, Paulo Eleuteri Serpieri). Nein, in Italien gibt es – vor allem dank dem Zeichner, Autor und Strippenzieher Igor Tuveri alias Igort und dessen Verlag Coconino Press, eine Kontinuität des anspruchsvollen graphischen Erzählens, das weltweit nur in Frankreich seinesgleichen hat. Aber kümmert sich jemand in Deutschland darum, abseits der Comics von Altmeistern wie Hugo Pratt und Lorenzo Mattotti oder eben des grandiosen Igort, die auch erst alle den Weg über Frankreich zu uns nehmen mussten?

O ja, und zwar Hannes Ulrich vom Avant Verlag. Bei ihm erscheint seit mehr als einem Jahrzehnt ein grandioser italienischer Titel nach dem anderen (und manchmal, aber selten, auch eine Enttäuschung). Der Kontakt zu Igort und Coconino ist dabei entscheidend, auch wieder bei der jüngsten Entdeckung, einem sage und schreibe 570 Seiten starken – ja, wirklich starken! – Band des 1966 geborenen und in der Romagna aufgewachsenen Davide Reviati.

Dieser vierundfünfzigjährige Zeichner, der in seiner Heimat in den letzten zwanzig Jahren sechs umfangreiche Comicbände publiziert hat, ist bei uns in der Tat immer noch eine Entdeckung, und was für eine! „Sputa tre volte“ lautet der Originaltitel seines bislang jüngsten Bandes, der in Italien 2016 erschien und seitdem Furore macht: 2018 kam die französische Übersetzung auf die Auswahlliste der besten Comics des Jahres beim Festival von Angoulême, eine englische und nun die deutsche Ausgabe folgten. „Dreimal spucken“ heißt die Letztere, und um das vorwegzunehmen: Myriam Alfano, die mittlerweile schon einige Comics aus dem Italienischen übersetzt hat, leistete wieder einmal Beachtliches.

Gar nicht einmal, was die Menge an Text angeht, denn Reviati hat große Passagen in seinem Comic, der aus wortlosen Seiten besteht: Stimmungsbildern, die die Landschaft der Romagna als Handlungsort ebenso anschaulich machen wie die Figuren, die noch mehr als über ihre Worte über ihre Handlungen und Gesten charakterisiert werden. Ansehen kann man sich das hier: https://www.avant-verlag.de/comics/dreimal-spucken/, wobei diese Leseprobe eher auf textintensive Seiten setzt; die italienische von Reviatis Homepage ist deshalb eine gute Ergänzung: https://davidereviati.wordpress.com/comic-books/sputa-tre-volte/. Aber dass dieser Autor mit Bildern so aussagekräftig erzählt wie mit Worten, macht die Übersetzung nicht leichter. Vielmehr muss der deutsche Text der Bildgewalt standhalten. Und dem italienischen natürlich gerecht werden.

Das ist gar nicht so einfach, denn es geht zwar vorrangig um die Jugend einer Clique in der Provinz mit allen privaten, schulischen und später beruflichen Problemen, aber das große Thema im Hintergrund ist die Ausgrenzung einer Roma-Familie, in deren Tochter sich die Jungs verguckt haben und die einigen von ihnen auch ihre Gunst gewährt, so sehr sie eigentlich dabei auch ausgenutzt wird. Aber auch das ist nicht das eigentliche Hauptmotiv. Das liegt vielmehr im faszinierten Blick des Protagonisten Guido, aus dessen Sicht der Band erzählt ist, auf die Kultur der Roma, die so ganz anders ist als die italienische mit ihrer unbedingten Liebe für den eigenen Herkunftsort und die damit einhergehende, oft auch verlogene Beständigkeit. Dabei spielt auch ein Buch eine Rolle, das 1956 in Polen erschien: mit Gedichten der 1910 geborenen Bronislawa Wajs, einer Roma, die bei ihrem Volk „Papusza“ (Puppe) genannt und unter diesem Namen auch publiziert wurde. In Guidos Klassenzimmer taucht plötzlich eine polnische Ausgabe des Buchs auf, Guido selbst streitet ab, es mitgebracht zu haben, aber alles spricht dafür, denn er hat als Einziger Interesse an den Roma und lässt sich von einem auch die Geschichte ihrer Verfolgung durch die Nazis erzählen.

Mit dieser Erzählung bricht eine große bedrohliche Wirklichkeit in die kleine und weitgehend kommode Welt von Guido ein, und Verachtung und Beleidigungen der Roma durch seine Freunde und die anderen Ortsansässigen bekommen einen noch weitaus dramatischeren Zungenschlag. Angesiedelt ist die Handlung, wie man den Bauten, Kleidungsstücken, Autos und Zügen ansehen kann, in den siebziger und achtziger Jahren (nicht in den Sechzigern, wie der Klappentext behauptet), und somit wird „Dreimal spucken“ – der Titel verdankt sich einem abergläubischen Ritual – zur Analyse dessen, was heute Antiziganismus genannt wird und in den letzten zwanzig Jahren vor allem in Frankreich und Rumänien scheußliche Taten hervorgebracht hat – ohne dass es in den meisten anderen europäischen Staaten viel besser stünde um Vorurteile und Benachteiligungen von Sinti und Roma.

Davide Reviati gelingt mit seinem Comic eine beklemmende Verzahnung von Alltag und Ausnahmezustand. Und in einem Epilog erzählt er auch noch die Geschichte von Papusza und zieht damit seiner eigenen Handlung noch eine zusätzliche Ebene ein. Dass Guido neben seiner Neugier auf die Roma noch von einem guten Geist in John-Wayne-Gestalt begleitet wird, bringt ein phantastisches Element ins Geschehen, das die vielen expressiven Bildmetaphern erstaunlicherweise vielmehr erdet als verstärkt. Denn die Diskrepanz zwischen dem in unzähligen Filmen bewährten Hüter von Recht und Gesetz und Anstand und seinem jugendlichen Bewunderer Guido ist eher komisch als tragisch.

Graphisches Vorbild für „Dreimal spucken“ sind eindeutig die Schwarzweißcomics von Lorenzo Mattotti, obwohl Reviati viel realistischer zeichnet als Mattotti. Aber immer dann, wenn es poetisch und phantastisch wird, sind die Anleihen deutlich. Warum sollte jedoch ein Zeichner sich nicht am Besten und Intensivsten orientieren, was die eigene Comic-Kultur hervorgebracht hat? Zumal, wenn es eine so reiche ist.