Vor einem Jahr war Frank Schmolke nach einem halben Jahrzehnt Pause plötzlich wieder voll da: mit seinem Comic „Nachts im Paradies“, einer Geschichte voller Action am Abgrund, angesiedelt im Taxifahrermilieu von München. Ein Albtraum im Schwarzweiß, wie man ihn eher von Frank Miller als von einem deutsche Zeichner erwarten würde, aber dabei realistisch erzählt. Ich war angemessen begeistert (https://blogs.faz.net/comic/2019/09/30/innerstaedtisches-road-movie-1443/), hatte mich aber schon wieder auf eine längere Auszeit von Schmolke nach dieser Tour de force eingestellt.
Doch begeistert waren auch andere, unter anderem Marc O. Seng. Der Name muss Comicfreunden nichts sagen, aber jetzt steht er neben Schmolkes auf dem Cover von dessen neuestem Band „Freaks“. Und wer mit der Kombination dieses Titels und des Namens im Netz sucht, erfährt, dass Seng ein Drehbuchautor ist, der gerade für Netflix eine deutsche Originalproduktion geschrieben hat: „Freaks – Ich bin eine von euch“, ein Superheldenfilm, inszeniert von Felix Binder und bei dem Streamingdienst abrufbar seit etwa zwei Monaten, und das offenbar ziemlich erfolgreich. Und jetzt kommt auch noch der Comic dazu. Schmolke is back! Und die Edition Moderne, dieser feine Autorencomicverlag, hat auch diesen Band wieder verlegt. Man hat in Zürich anscheinend Genreblut geleckt.
Weil Seng und die anderen Macher von „Freaks“ von „Nachts im Paradies“ beeindruckt waren, haben sie Schmolke gefragt, ob er eine Graphic Novel zum Film machen wolle. Das wollte der stilbewusste Schmolke natürlich nicht, denn er ist Comiczeichner, und da „Freaks“ ein Art Underground-Superheldengeschichte ist, verlangte sie in seinen Augen nach einem kleinen schmutzigen Comic. Naja, klein ist er nicht wirklich geworden, sondern 250 Seiten dick. Aber schmutzig durchaus: ganz im dynamischen Stil von „Nachts im Paradies“, der sich auch schon an amerikanischen Vorbildern wie den Brüdern Hernandez oder der Hardboiled-Serie „Transmetropolitan“ orientierte. Das sieht diesmal so aus: https://www.editionmoderne.ch/de/80/leseprobe/358/freaks.html. Schmolke sah sich übrigens nie Szenen aus der Verfilmung von Sengs Drehbuch an, sondern schuf seine eigene Version. Das war offenbar ganz im Sinne seiner Auftraggeber.
Um einigermaßen parallel zum Film mit dem Comic herauszukommen, musste Schmolke binnen eines einzigen Jahres ein Riesenpensum absolvieren – so viel, dass er es bislang nicht mal geschafft hat, den neuen Band auf seiner eigenen Homepage anzukündigen. Aber die Arbeit hat sich graphisch gelohnt, gerade weil man manchen Seiten das Tempo ansieht, mit dem sie gezeichnet wurden. Raue Geschichte, rauer Stil. Wobei man bei dieser Gelegenheit sagen muss, dass sich zartbeseitete Leser lieber nicht auf die Geschichte einlassen sollten. Es passiert darin nämlich viel Unerfreuliches, und Schmolke zeigt es uns explizit – etwa so wie Richard Piers Rayner in „Road to Perdition“. In „Freaks“ spielt indes eine junge Frau die Hauptrolle: Wendy, Mutter eines kleinen Sohnes, entdeckt für sie selbst durchaus überraschend die Fähigkeit, sich unter Bedrohung in eine göttergleiche Rächerin à la vielarmige Kali zu verwandeln. Deren Metier ist bekanntlich die Zerstörung, und auch Wendy beweist wenig Skrupel im Umgang mit Personen, die sie belästigen. Alsbald erfährt sie, dass es noch andere Menschen von ihrer Art gibt und warum sie bislang das Entscheidende über sich selbst nicht wusste. Mehr aber hier nicht zur Handlung, sonst nähme man Schmolkes Comic das Spannungsmoment.
Ich kenne den Film „Freaks“ nicht, aber man kann sich einigermaßen vorstellen, wie er aussieht, denn die Nachtseite der Superhelden hat eine eigene Ästhetik hervorgebracht, die man kürzlich erst in „Birds of Prey“ wieder einmal im Kino besichtigen konnte (als die noch offen waren). Wendy ist tatsächlich so etwas wie eine deutsche Harley Quinn, nur nicht bösartig, sondern verdammt zu ihrer Rolle – durch äußere Bedrohung, Intrige und Mutterinstinkt. Psychologisch ist durchaus überzeugend, wie Seng die Figur konzipiert hat, wobei man auf Komplexität nicht warten darf. Und Schmolkes Schwarzweißbilder (mit klarem Primat des Schwarz) tragen dem buchstäblich Rechnung.
Am Inhaltliche hapert’s also, und das nimmt „Freaks“ den Reiz. Dass die Geschichte gegenüber „Nachts im Paradies“ abfällt, liegt an einer spezifischen Genreproblematik: Superhelden im deutschen Alltag wirken einigermaßen lächerlich. Warum das so ist, weiß ich auch nicht, aber mutmaßlich braucht man ein weites Land und eine verrückte Waffengesetzgebung, um das Bedürfnis nach überlebensgroßen gerechten Rächern aufkommen und vor allem auch plausibel wirken zu lassen. Wendys Verwandlungsgabe stößt indes auf eine Welt, in der die Bedrohung eher von Psychopharmaka als von Psychopathen ausgeht, und deutsche Polizei wirkt in der Auseinandersetzung mit einer skrupellosen Superheldin von Beginn an hilflos. Es ist nicht Schmolkes Schuld, nicht einmal Sengs, wenn das, was die Stärke von „Nachts im Paradies“ war – das Münchner Lokalkolorit –, in „Freaks“ zum Fluch wird. Hiesige Freibäder oder Stadtvillen mögen für einen „Tatort“ als Kulisse taugen und also auch für einen Russenmafia-Stoff wie in „Nachts im Paradies“, aber nicht für eine Superheldenerzählung. Für die taugt der leicht parodistische Ansatz der „Austrian Superheroes“ von Harald Havas oder der trashige von Jörg Buttgereits „Captain Berlin“ besser. Also einfach Schmolkes Bilder gucken, ohne groß zu lesen.