Comic

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Diese Erzählform vereint das Beste beider Kunstwelten: Wort und Bild. Was man davon lesen und was man besser meiden soll, steht hier.

Emotion in Art Déco

Was ist da los mit der belgischen Comicserie „Spirou“, dass ich beinahe vierteljährlich neue Geschichten bespreche? Und wieso mache ich das, wenn darunter so unsägliche sind wie erst unlängst „Spirou bei den Sowjets“ (https://blogs.faz.net/comic/2020/10/19/spirou-im-lande-des-klischees-1624/)? Beides hängt zusammen: Der Dupuis Verlag hat erkannt, dass eine legendäre Serie wie die seit 1938 laufenden Abenteuer um die Abenteuer des anfänglichen Hotelpagen und dann Journalisten Spirou gleich mehrere Generationen interessiert, dass man aber gerade deshalb unterschiedliche Formen bieten muss, um alle bei der Stange zu halten.

Also gibt es an den klassischen Geschichten eines André Franquin orientierte neue „Spirou“-Comics, zeitgemäß flotte Erzählungen (Slapstick, Action) und solche, die bewusst einen ganz anderen als den üblichen Ton in den Kosmos der Serie einbringen. Besonders erfolgreich bei Letzterem war Émile Bravo, paradoxerweise mit gleich mehreren Ursprungsgeschichten für Spirou (2008 das „Porträt eines Helden als junger Tor“ und nun der noch im Erscheinen begriffene Vierteile „Spirou oder Die Hoffnung“), die jeweils in die vierziger Jahre zurückführten, in die deutsche Besatzungszeit, aber genau dadurch etwas Neues boten. So ernsthaft hatte man die Serie noch nicht erlebt (zuletzt im November 2019 von mir gewürdigt unter https://blogs.faz.net/comic/2019/11/03/von-der-kollaboration-zur-deportation-1459/).

Der Wille zur Diversifikation des Erfolgsrezepts erfordert Mut, denn bisweilen enttäuscht man das Publikum damit (siehe oben). Aber anders als bei der Wiederkehr des Immergleichen („Asterix“), ere Festlegung auf einen festen Stil („Lucky Luke“, „Blake und Mortimer“) oder gar dem Einfrieren einer Serie auf dem kanonischen Stand („Tim und Struppi“, seit Hergés Tod vor 38 Jahren nicht mehr fortgesetzt) ist bei „Spirou“ immer etwas Unerwartetes möglich – und zwar sowohl inhaltlich als auch graphisch. Damit wird die Tradition nutzbar gemacht für Revolution (wie bei Bravo) oder zumindest für Evolution (wie in den meisten Fällen). Und – kaum minder interessant – ganz selten auch für Reaktion.

Reaktion verstanden einerseits als konservative Rückgriff auf Bewährtes, aber damit auch auf etablierte Vorbilder, die außerhalb der Serie standen – selbst für solche Einflüsse bietet „Spirou“ ein Forum. Der gerade in Frankreich erschienene Band „Pacific Palace“ bietet dafür ein Musterbeispiel. Er gehört zur Untergruppe der „Le Spirou de …“-Alben: Geschichten außerhalb des Hauptstrangs der Saga, bei denen etablierte Autoren sich  einmalig an der Welt von „Spirou“ versuchen dürfen. Im aktuellen Fall ist Christian Durieux der Glückliche, ein in Deutschland noch wenig bekannter Veteran des belgischen Comics, geboren 1965 in der Stadt, der auch Spirou entstammt: Brüssel, und bislang eher im realistischen Stil à la André Juillard unterwegs. Nun verleiht er Spirou einen Look, den man noch nicht gesehen hat. Eine wunderbare elfseitige Leseprobe bis genau zur schönsten Einzelseite des Albums findet man hier: https://www.bdgest.com/preview-3119-BD-pacific-palace-le-spirou-de-christian-durieux.html?_ga=2.80045972.220698461.1611061832-1994709679.1512648958.

Man merkt dem Band an, dass er, wie Durieux einleitend schreibt, aus purer Freude entstanden ist: Freude vor allem Art-Déco-Architektur, wie es sie ja in Brüssel reichlich gibt und die auch zeitlich perfekt zu den Anfängen von „Spirou“ passt. Aber weder spielt die Geschichte in Brüssel noch in den dreißiger Jahren. Schauplatz ist das titelgebende „Pacific Palace“, ein Luxushotel irgendwo im bergigen Süden Frankreichs, alles stilechter Art Déco. Wir befinden uns jedoch in relativer zeitlicher Gegenwart: Die Autos lassen optisch einen Rückschluss auf die Zeit von 1990 bis 2000 zu. Und inhaltlich spricht auch einiges für diese Zeit, denn es geht darum, dass ein gestürzter osteuropäischer Machthaber seine alten Beziehungen zur französischen Regierung spielen lässt, um im Westen komfortablen  Unterschlupf zu finden. Um seine Sicherheit zu gewährleisten , wird der ganze Hotelkomplex für diesen Iliex Korda und seine kleine Entourage reserviert.

In Korda kann man unschwer (schon vom Äußeren her) ein Abbild des rumänischen Diktators Nicolae Ceausescu erkennen; dass seine junge Tochter Elena heißt, ist ein weiterer Hinweis, denn das war auch der Vorname von Ceausescus Frau, die gemeinsam mit ihm Ende 1989 erschossen wurde. Im „Spirou“-Abenteuer ist die ganze Familie davongekommen, aber die Sorge, dass die nicht näher spezifizierten Untaten des „Schlächters seines Volkes“, wie ihn die Opposition nannte, Rache nach sich ziehen, sorgt für eine kleine Truppe von Leibwächtern im „Pacific Palace“. Gemeinsam mit ein paar französischen Regierungsvertretern sind das die Logiergäste im leeren Grandhotel, das von einer Mini-Truppe betreut wird: Direktor, Küchenchef, ein Zimmermädchen und zwei Pagen.

Einer davon, Überraschung!, ist Spirou, der andere sein ständiger Begleiter Fantasio. Durieux bringt den Abenteurer also nach bravoschem Muster noch einmal auf die alte Spur, zurück an die beruflichen Anfänge, aber in einer späteren Lebensphase – etwas dubios ist davon die Rede, dass Spirou und  Fantasio sich vom Journalismus abgewandt haben und hier eine Art Auszeit nehmen. Prompt läuft ihnen die beste Story vor die Füße, aber natürlich müssen sie schweigen über Kordas Anwesenheit. Zudem verlieben sich beide in die schöne Elena, Fantasio gewohnt oberflächlich-großspurig, Spirou geradezu tragisch tiefempfunden. Durieux gelingt hier psychologisch etwas, womit sich Bravo noch deutlich schwerer tut: die Darstellung einer Leidenschaft des Helden.

Die Geschichte ist im Geist eines der berühmtesten aller französische Comics erzählt: „Treibjagd“ von Pierre Christin und Enki Bilal, der 1983 erschienene Band, in dem die seelischen und politischen Abgründe der Führer des real existierenden Sozialismus eine Darstellung fanden, deren Intensität und Ausweglosigkeit kein anderes Kunstwerk seitdem erreicht hat. In gewisser Weise schickt Durieux eine der Figuren aus „Treibjagd“ einige Jahre später ins Exil und setzt das perfide Spiel fort, dass sie und deren Kollegen seinerzeit vorgeführt haben. Stimmung, Farben, Tonfall – alles wie bei Christin/Bilal, nur dass es dort nicht den comic relief durch die arrogante Art Fantasios gab. Aber mit dem melancholischen Spirou von Dureiux hätte auch „Treibjagd“ etwas anfangen können.

Etwas Genaueres zur Handlung zu sagen, wäre kontraproduktiv, „Pacific Palace“ lebt von der Unfassbarkeit seiner Figuren, ihren steten Motivationswechseln, in denen nur die aufkeimende Liebe zwischen Elena und Spirou eine Konstante darstellt. Ihren atmosphärischen Höhepunkt findet sie im nächtlichen Swimming Pool des Hotels, und später, als beide kurz vor der finalen Intrige im Dunkel eines Stromausfalls stehen, sind die schwarzen Panels beredter als das Gros der Dialoge – wie überhaupt die weitgehend stummen Seiten von Durieux die stärksten sind.

Was gibt es noch zu preisen? Dass es eine Ich-Erzählerstimme gibt, die aber nur gelegentlich Handlung kommentiert. Es ist die von Spirou selbst. Dann gibt es die erste Nacktszene mit dem Pagen zu entdecken, wenn auch nur hinter dem Milchglas einer Duschtür. Dass die abgeschattete Farbpalette der Bilder von Durieux nach einer Verfilmung geradezu schreit, zugleich jedoch rätseln lässt, warum es von „Pacific Palace“ auch eine teurere Schwarzweißausgabe gibt (zumal die kolorierten Originale gerade bei der Brüsseler Galerie Champaka zum Kauf angeboten werden). Und dass man bei Dupuis eben den nötigen Mut hat, ein solches im Wortsinn erwachsenes „Spirou“-Album zu publizieren. Der deutsche Lizenznehmer Carlsen wird übrigen bereits am 23. März mit seiner Übersetzung nachziehen. So dass es wieder etwas Gutes hierzulande von „Spirou“ zu lesen gibt. Wobei ja hoffentlich auch bald der dritte Band von Émile Bravos Tetralogie anstehen dürfte. Spätestens dann auch hier wieder mehr zum Pagen und seinen Autoren und deren Möglichkeiten.