Der frankokanadische Zeichner Guy Delisle ist dabei, das Wort „Chroniques“ zu seinem Markenzeichen zu machen. Hießen seine beiden ersten internationalen Erfolgscomics Anfang des Jahrtausends noch einfach „Shenzhen“ und „Pjöngjang“ – nach seinen zeitweisen Aufenthaltsorten, die er darin beschrieb –, nannte er 2007 seine Erinnerungen an die Zeit, die er in Myanmar verbrachte (ein leider durch die dortigen politischen Ereignisse gerade wieder hochaktuelles Buch) „Chroniques birmanes“. Vielleicht, weil er darin erstmals keine Arbeitssituation schilderte, denn nach Myanmar war Delisle als Begleiter seiner Frau gekommen, die dort für „Ärzte ohne Grenzen“ arbeitete, während er in China und Nordkorea als Trickfilmzeichner engagiert worden war. Er hatte also nun viel mehr Zeit, Land und Leute zu beobachten, und das wiederholte sich später in Israel: Delisles Aufenthalt dort, wieder als Anhängsel seiner Frau, fand 2012 Niederschlag in seinen „Chroniques de Jérusalem“. Und nun, noch einmal neun Jahre später, bringt der 1966 geborene Zeichner „Chroniques de Jeunesse“ heraus: Chroniken/Aufzeichnungen seiner Jugend.
Damit ist aber auch wiederlegt, dass die Vergabe der Gattung „Chroniques“ durch Delisle einen inhaltlichen Grund haben könnte, denn im neuen Comic steht ja wieder die eigene Arbeitswelt im Zentrum. Als sechzehnjähriger Schüler verdingte sich Guy Delisles für die Zeit der Sommerferien in einer Papiermühle seiner Heimatstadt Québec, genauer gesagt im Vorort Stadacona. Das war 1982, und die Fabrik existierte schon seit 1927: ein grandioser Art-déco-Industriebau, der in prominenter Lage am Zufluss des Flusses Saint-Charles in den Sankt-Lorenz-Strom errichtet wurde, weil dort das im Inland geschlagene Holz angeflößt wurde. Im Laufe der Jahrzehnte wechselte das ursprünglich Anglo-Canadian Pulp and Paper Mills genannte Unternehmen (diese englische Bezeichnung dürfte im kulturellen Herzen des frankophonen Kanada als Affront empfunden worden sein) mehrfach den Eigentümer; heute firmiert es unter „White Birch“ (wieder englisch!) und gehört einem amerikanischen Konzern, mit dem es seitdem nur Ärger gegeben hat: Entlassungen, angedrohte Werksschließung, Pensionsausfälle. Aber das war alles schon lange nach Delisles Zeit als Ferienaushilfskraft in Stadacona.
Wir reisen mit ihm zurück in die achtziger Jahre, und wie das kulturelle Umfeld jener Zeit mit in die sozialreportagenartige Schilderung vom Arbeiten in der Papiermühle eingefügt wird, ist eine der großen Leistungen von „Chroniques de Jeunesse“ und rechtfertigt dann doch den Titel. Denn noch mehr als über die Abläufe in einem großen Industrieunternehmen (damals noch mehr als tausend Arbeiter und ein brutales Zweischschichtsystem mit jeweils zwölf Stunden Arbeitszeit an vier aufeinanderfolgenden Tagen – ich weiß dank einiger früherer Jobs als Werkstudent bei der Bayer AG, was zwölf Stunden Produktionsarbeit bedeuten, und damals traf mich das nur alle zwei Wochen einmal) erfährt man über Guy Delisle selbst: Porträt des Künstlers als junger Mann, in dessen Jugendzimmer die Popmusikplakate an der Wand jährlich wechseln, die Vorliebe für französische Comics aus der örtlichen Bibliothek aber gleich bleiben – Moebius über alles! Das ist ebenso zauberhaft wie informativ zu lesen, und aus dem subjektiven Blickwinkel des jungen Aushilfsarbeiters am untersten Ende der Werkshierarchie bekommt man dann doch einen beklemmenden Eindruck von der Schufterei. Sehr anschaulich und unbedingt glaubwürdig. Und gleichsam nebenbei eine Geschichte der Papierherstellung. Das musste einen Comiczeichner thematisch ja reizen!
Der Stil von Delisles ist noch markanter als seine Titel: eckig abstrahierte Figurendarstellungen, eine Zusatzfarbe (diesmal Ocker, mit dem vor allem das Arbeitshemd des Protagonisten koloriert wird, so dass man ihn in den teilweise großen Totalen mit Hallenansichten aus dem Fabrikinneren jeweils gut identifizieren kann). So sieht das in der fabelhaften zwanzigseitigen Leseprobe des französischen Verlags Delcourt aus: https://www.editions-delcourt.fr/bd/preview/chroniques-de-jeunesse. Man kann daran auch erkennen, dass Delisle keine falschen Rücksichten nimmt. Seine Erinnerungen lassen auch die unangenehmen Seiten einer Arbeit unter lauter eher schlichten Männern nicht aus, bis hin zu einem Verhalten eines Vorgesetzten, das man zumindest als übergriffig, aber wohl auch als sexuelle Belästigung deuten kann.
Diese Dichte der Beschreibung hebt „Chroniques de Jeunesse“ aus dem Gros sowohl der autobiographischen als auch der Sachcomics heraus. Marjane Satrapi hat mir kürzlich im Gespräch gesagt, dass ihre vor zwanzig Jahren erschienene vierbändige Autopbiographie „Persepolis“ deshalb so erfolgreich war, weil die Geschichte größer war als sie selbst als deren Protagonistin. Das gilt auch für Delisle als Chronisten seines Lebens – und auch für den fulminanten Comic „Geisel“, den er 2016 nach den Erinnerungen eines im Kaukasus verschleppten, aber dann seinen Entführern entkommenen Franzosen gezeichnet hat. So lebensnah erzählen wenige Comic-Autoren, und wir spreche ja im Falle von für Delisles Werk von Büchern über ferne Länder oder Tätigkeiten, die den meisten seiner Leser fremd sein dürften.
Der einzige auffällige Fehler in den neuen „Chroniques“ betrifft die Eigentumsverhältnisse von Delisles Arbeitsplatz. Er spricht im Comic für seine drei aufeinanderfolgenden Sommer-Jobs ständig vom Unternehmen Daishowa, doch diese japanische Firma kaufte das Werk laut Deslisles eigener Übersicht erst im Jahr 1988. Wie ihm, der so viel Wert auf Akkuratesse legt, und dem Lektorat des renommierten Delcourt-Imprints Shampooing diese Unstimmigkeit unterlaufen konnte, ist mir schleierhaft. Bleibt zu hoffen, dass Reprodukt als Delisles deutscher Verlag bei der sicher bald anstehenden Übersetzung aufpasst. Die dürfte übrigens davon profitieren, dass Kanada nun erst in diesem Jahr seinen eigentlich für 2020 geplanten Frankfurter Buchmesse-Gastauftritt bekommen wird (wenn’s denn pandemisch möglich ist). Dazu passt diese Québec-Geschichte perfekt.
Die Arbeitswelt der Achziger
Lieber Herr Platthaus,
Sie schreiben am Ende Ihrer Analyse, die mir gefiel, von einem auffälligen Fehler. Vielleicht ist Ihr Urteil zu streng. Es kann Gründe geben, den Namen des Unternehmens so zu wählen, wie es Guy Delisle getan hat, z.B. Vereinfachung.
Ich habe kürzlich in einem Band von Carlsen (von Peer Meter) über das Geschehen beim Ableben Beethovens auch erwogen, Carlsen anzuschreiben, weil mir etwas unstimmig vorkam. Peer Meter zeichnet Notre-Dame mit dem im Jahre 2019 eingestürzten Vierungsturm. Bei Beethovens Tod war dieser jedoch noch nicht wieder aufgebaut, da er im Jahrhundert davor ebenfalls eingestürzt war. Erst 1853 war der Vierungsturm wieder in seiner alten Pracht zu bewundern.
Der Autor muss Freiheiten der Gestaltung haben und unsere heutige Sicht von Notre-Dame schließt den Vierungsturm mit ein. Ich habe die Kenntnis auch nur dadurch erlangt, weil ich zuvor einen Bericht des Wiederaufbaus von Not-Dame gesehen habe.
Alles Gute und vielen Dank für Ihre Kolumne.
Bernd Kasten