Vor zwanzig Jahren gründeten einige französische Comiczeichner in Anlehnung an die Literaturschule von Oulipo die Arbeitsgruppe Oubapo – Ouvroir de Bande dessinée Potentielle (sinngemäß übersetzt: Werkstatt für die Möglichkeiten des Comics). Viele Leser hätten allerdings, das, was dabei herauskam, wohl eher als unmöglich betrachtet: Geschichten zum Beispiel, die immer dieselben Bilder variierten, mitten im Verlauf die Erzählrichtung wechselten oder Auf dem Kopf gelesen werden wollten. Prinzip dieser Versuche war nämlich, das Potential der Comics dadurch auszuloten, dass man den Autoren strenge formale Vorgaben macht. Wer damit zurecht kommt, der hat etwas von der eigenen Kunstform verstanden.
Deutsche Mitglieder von Oubapo gab es nicht, Nicolas Mahler hat sich, sofern ich mich recht erinnere, ein paar Mal beteiligt, aber der Mann ist ja Österreicher. Jemand, der indes mit offenen Armen dort willkommen geheißen worden wäre, ist Henning Wagenbreth, ehedem Mitglied der legendären „PGH Glühende Zukunft“ der Ostberliner Nachwendezeit (neben ihm noch darin vertreten Anke Feuchtenberger, Holger Fickelscherer und Detlef Beck, also alles singuläre Comic- und Cartoon-Könner) und seit 1994 Professor an der UdK Berlin, die er seitdem zu einer der wichtigsten Nachwuchsschmieden für Comiczeichner in Deutschland machte. Wagenbreth selbst indes ist nur selten auf diesem Feld unterwegs; seine Schwerpunkte sind Plakat- und Buchillustration. Umso schöner aber, wenn nun im Peter Hammer Verlag tatsächlich wieder einmal ein Comic von ihm erscheint: „Rückwärtsland“.
Das Oupapotential der Geschichte liegt in der Umkehrung von Ursache und Wirkung: Im Rückwärtsland ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik außer Kraft gesetzt. Die Entropie nimmt zu, alles wird ordentlicher, funktioniert vor allem besser. Konkretes Beispiel: Die Tasse Kaffee wird vom Ehemann schon vor der Bitte seiner Gattin darum serviert. Das klingt noch einigermaßen machbar auch für unsere Welt, aber wie da Forstarbeiter mit Kettensägen Bäume aufrichten oder jemand sein gerade gewonnenes Vermögen gegen einen Lottoschein eintauscht, das hat schon aberwitziges, ja, Potential. Wobei beim letztgenannten verdrehten Ereignis ein Fehler in Wagenbreths Geschichte steckt, denn da heißt es: „Die Millionen tauscht er ein / gegen einen Lottoschein. / Legt den Zettel ins Regal / und vergisst die Superzahl.“ Wäre das der umgekehrte Ablauf der Geschichte, hätte der Schein ja als vergessener nie die gewinnsumme eingespielt.
Man hat eben gemerkt: In Rückwärtsland kommt alles gereimt daher. Das hat Wagenbreth zu seiner bevorzugten Ausdrucksform gemacht, auch schon im vor neun Jahren im selben Verlag erschienenen Band „Der Pirat und der Apotheker“, bei dem es aber unumgänglich war zu dichten, weil es sich dabei um die Übersetzung (und Illustration) einer Ballade von Robert Louis Stevenson handelte. Im neuen Buch merkt man Wagenbreth den Zauber des Reimzwangs an, das Versschema ist zwar simpel, aber umso effizienter. „Rückwärtsland“ gibt ein grandioses Vorlesebuch ab.
Und natürlich ein Bilderbuch – wie könnte es anders sein bei Peter Hammer? Jeweils die Hälfte einer Doppelseite ist mit einer ganzseitigen Illustration im unverkennbaren Wagenbreth-Stil gefüllt (wer ihn nicht kennt, kann ihn sich hier ansehen und lieben lernen: http://www.wagenbreth.de/projekt.php?nummer=280 zeigt ein Poster zu „Rückwärtsland, https://www.peter-hammer-verlag.de/fileadmin/user_upload/PDF__s/Vorschauen/PHV_Fruehjahr_2021_Novitaeten_DS.pdf die Verlagsvorschau mit Auszügen aus dem Buch), daneben sind dann die jeweiligen Verse zu Oberthemen wie „Geirk“, „Hcahcs“ oder „Nefoelhok“ zu finden, um einmal die am skurrilsten zu lesenden zu nehmen. Mit der ungewohnten Schreibweise werden Kinder auch das lesen anders erleben. Es ist ein Lust, durch dieses Buch und damit durch „Rückwärtsland“ zu gehen.