Vor vier Jahren brachte der österreichische Zeichner Albert Mitringer seinen Debüt-Comic „Lila“ heraus, und der gab über die Tatsache hinaus, dass er selbst sehr schön war (was ich damals auf https://blogs.faz.net/comic/2017/12/05/das-ist-und-das-macht-sprachlos-vor-freude-1133/ lobte), zu den schönsten Erwartungen an die Zukunft dieses Autors Anlass. Nun ist er mit seiner zweiten Geschichte vom ambitionierten Wiener Kleinverlag Luftschach, der Comics zwar regelmäßig, aber doch nur als kleineren Bestandteil seines Programms veröffentlicht, zum ambitionierten Stuttgarter Kleinverlag Zwerchfell gewechselt, der sich ganz Comics verschrieben hat. Und mit „Requiem“ macht Albert Mitringer nun auch ganze Sache in Sachen Comics.
„Lila“ war ästhetisch noch sehr trickfilmgetrieben, „Requiem“ hat mit seinen rasanten Einstellungswechseln zwar noch die sequentielle Dynamik eines Storyboards, ist jedoch als Erzählung perfekt aufs Medium des Buchs abgestellt. Es gibt sogar eine klassische Herausgeberfiktion, denn die eigentliche Geschichte wird einem gewissen Humberto Alfonso zugeschrieben, dessen vom Vatikan indizierte Erzählung „Requiem“ hier adaptiert worden sein soll. Und das geschah dann auf eine Weise, die nur in traditioneller Albenform und entsprechendem Albenformat ihre Wirkung entfaltet. Vor allem dank der ausgefuchsten Seitenarchitektur, die derart abwechslungsreich gestaltet ist, dass man keine einzige unter den fast zweihundert Seiten finden dürfte, die im Aufbau einer anderen gliche. Dass dabei bisweilen Panels bis an die Grenze der optischen Erkennbarkeit gebracht werden, um dann wieder in Kontrast mit bis zu seitenfüllenden Einzelbildern zu treten, ist erzählerisch bedauerlich, aber optisch eindrucksvoll. Und dabei ist das Vorbild der fünfundzwanzig Jahre alten Fantasy-Comics von Lewis Trondheim erkennbar, die ebenfalls mit Kleinstformaten von Panels Tempo und Handlungsdichte schufen.
Überhaupt: die Association-Schule. Da hat Mitringer einiges gelesen und gelernt. Sein Ziegendämon etwa, die anfängliche Nemesis in „Requiem“, die sich allerdings im Laufe des Geschehens als hilfreich erweist, ist eine Quasi-Eins-zu-eins-Übernahme aus Joann Sfars Professor-Bell-Album „Die Puppen von Jerusalem“. Aber wer könnte schon Monster eindrucksvoller zeichnen als Sfar, und wenn man sich dann noch vom vielleicht besten Comic in der exzessiven Publikationsliste eines Großmeisters anregen lässt, ist das mehr als legitim. Wie schon in „Lila“ sind die sichtbaren Einflüsse auf Mitringer von erstem Rang.
Hier muss man auch die Hauptfigur aus „Requiem“ näher betrachten, einen erschlagenen Krieger namens Darin, der sich auf der Wallstatt als quicklebendiges, aber leider von Erinnerungsverlust geplagtes Skelett in seiner Rüstung wiederfindet und auf Suche nach seiner Herkunft geht – geführt von einer Krähe und verfolgt vom Ziegendämon. Mittelalterliche Epen über Questen und gemalte Totentänze geben hier die literatur- und kunstgeschichtlichen Reminiszenzen für die Gestaltung ab (Leseprobe unter https://zwerchfellverlag.de/requiem-2/), wobei für den toten Darin das gilt, was der einschlägig brillante Illustrator Nikolaus Heidelbach („Kleiner dicker Totentanz“) am erfolgreichsten deutschsprachigen Totenbilderbuch („Ente, Tod und Tulpe“ von Wolf Erlbruch) zu bemängeln hat: „Der Totenkopf hat ja gar keine Zähne.“ Das lässt ein Skelett weitaus freundlicher wirken als in den Vergänglichkeitsmahnungen vergangener Jahrhunderte. Aber Darin soll ja bei aller gewissen Tolpatschigkeit auch die Identifikationsfigur des Comics sein.
Zu sehen war auch schon: Farbe wechselt in „Requiem“ mit Schwarzweiß. Letzteres ist dominant, bunt geht es nur in Erinnerungsfetzen von Darin zu, der Stück für Stück die eigene bedauerliche Famiienbiographie zusammenbekommt. Dieser plakative Einbruch von Farbe war auch schon Erzählprinzip in „Lila“. Und ein weiteres Element ist herauszuheben: So wie im Debütcomic japanische Manga und Animes Pate standen für viele Bildkompositionen, sind es nun wieder Bildvorbilder aus dem Reich der aufgehenden Sonne – diesmal Ukiyo-e, also Holzschnitte, deren in Kampfposen eingefrorene Samuraidarstellungen (vor allem bei Kuniyoshi) bis ins feinste Detail von Mitringer übernommen werden. Und der Auftakt zum Comic mit der durch einen Pfeilhagel niedergestreckten und gespickten Armee ist wie aus einem Kurosawa-Film übernommen.
In einem klugen Interview auf der Verlagsseite (https://zwerchfellverlag.de/requiem-interview-mit-albert-mitringer/#more-2282, hier auch noch mehr Bildbeispiele) gibt der Autor noch über ganz andere Einflüsse Auskunft. In diesen Comic ist ein ganzes persönliches Bildarchiv eingeflossen. Das Graphische hat darum auch den Primat gegenüber dem Erzählerischen, zumal sich die Dialoge aufs Nötigste beschränken, was „Requiem“ zu einer Lektüre im Manga-Lesetempo macht. Aber da die Feinheit von Mitringers Strich, Schraffuren und Schattierungen eigentlich nur in Arbeiten von Sergio Toppi seinesgleichen hat, kann man übers Bewundern bisweilen auch das Umblättern vergessen. Dann verliert man sich in dieser Fantasywelt, die ästhetisch so viele Türen in weitere Paralleluniversen öffnet. Eine davon wird zum dritten Album von Albert Mitringer führen. Wie es aussehen könnte – darüber lässt sich angesichts der Formenfülle von „Requiem“ nur spekulieren. Aber ähnlich quicklebendig wie dieses Totenbuch wird es wohl auch sein.