Vor einem Monat hätten sich in der Münchner Villa Stuck zwei der prominentesten deutschen Comiczeichnerinnen zum öffentlichen Gespräch treffen sollen: Barbara Yelin und Anke Feuchtenberger. Der Termin wurde erst verschoben und dann ganz abgesagt, was doppelt schade ist. Nicht nur, weil Yelin an der HAW Hamburg bei Feuchtenberger studiert hat und die Begegnung also eine von zwei miteinander tief Vertrauten gewesen wäre, sondern auch, weil Gegenstand des Gesprächs Feuchtenbergers jüngster Comic hätte sein sollen, und den dürfte bislang kaum jemand kennen, obwohl es sich bei ihr doch um die wirkungsmächtigste und international wohl auch bekannteste der vielen exzellenten deutschen Comiczeichnerinnen handelt.
„Der Spalt“ heißt dieser Band, und auch ich kenne ihn nur, weil Anke Feuchtenberger ihn mir kürzlich zugesandt hat. Seit Jahren warte nicht nur ich, sondern die gesamte Schar der Feuchtenberger-Leser auf den bei Reprodukt angekündigten „Deutsches Tier im deutschen Wald“ – ein seit noch viel mehr Jahren in Arbeit befindliches Riesenprojekt, das zum Opus summus dieser Autorin zu werden verspricht. Auf Ausstellungen wurden schon Teile daraus gezeigt, eine bereits vielhundertseitige Version wurde beim Leibinger-Comicbuchpreis ausgezeichnet, doch das Warten geht weiter. Deshalb weckte die Ankündigung der Ankunft des „Spalts“ ein zunächst – halten zu Gnaden – zwiespältiges Gefühl, doch das wich mit dem Auspacken des riesenformatigen Heftes sofort.
Weil schon der Umschlag eine Sensation ist. Vorne schaut einem der treue Blick eines Hundes tief in die Augen, hinten wird man mit dem stolzen Blick einer Kosmonautin konfrontiert. Das Ganze wie gesagt im Überformat von 42 auf 30 Zentimeter und in Feuchtenbergers unnachahmlich gewischter Kohletechnik auf ockerfarbenem verstärktem Papier gedruckt – ein Augenschmaus, der einmal mehr die große Malerin zeigt. Seit Anke Feuchtenberger mit ihrem an mittelalterliche Klappaltäre angelehnten Bilderzyklus „Tracht und Bleiche“ im LWL-Museum von Münster vertreten ist, muss man fürchten, dass sie in der Kunstszene bekannter geworden ist als in der Comicszene.
Was insofern nur konsequent wäre, als Feuchtenberger stets betont hat, sie wüsste ja gar nicht, wie man Comics machte. Eine reichlich bescheidene Aussage für eine Frau, die seit Jahrzehnten als Professorin für Illustration die beste Ausbilderin in diesem Fach in Deutschland ist (was die Anzahl der aus ihrer Klasse stammenden Stars des Metiers beweist; ich nenne mal neben Yelin nur Sascha Hommer, Arne Bellstorf, Birgit Weyhe, Simon Schwartz und Line Hoven). Aber Tatsache ist, dass die 1963 in Ost-Berlin geborene Zeichnerin sich erst nach der Wende für Comics zu interessieren begann und deren Erzählstruktur niemals ganz für sich adaptierte. Dadurch wurde sie zur Avantgarde eines Erzählens, das ihr Publikum mit Begriffen wie „somnambul“ oder auch „introvertiert“, jedenfalls aber „feministisch“ beschrieben hat, während ihre Gegner – und deren gab und gibt es unter der traditionellen Comicleserschaft viele – Charakterisierungen wie „prätentiös“ oder auch „verstiegen“, jedenfalls aber „feministisch“ vorzogen. Immerhin also in einem Punkt Einigkeit.
Wobei Anke Feuchtenberger kein gesellschaftspolitisches Anliegen hat, sondern ein ästhetisches. Sie erzählt aus ihrer Wahrnehmung als Frau heraus in Bildern. Immer mehr sind die in den letzten Jahren zu Solitären geworden, einzeln angefertigten Motiven, die dann von der Künstlerin zu Geschichten arrangiert werden. „Der Spalt“ ist ein Musterbeispiel dafür, wie die als PDF herunterladbare Leseprobe zeigt (allerdings mit italienischem Text: https://www.canicola.net/wp-content/uploads/2021/05/La-Fessura-anteprima.pdf). Auf die Einfügung von Textelementen in die teilweise seitenfüllenden, nie über mehr als vier Bilder pro Seite hinausgehenden Panels verzichtet Feuchtenberger größtenteils, ihre in Worte gekleidete Erzählung läuft buchstäblich am Rand mit: über und unter den Bildblöcken, gesetzt in der charakteristischen Typographie, die ein Markenzeichen von Feuchtenberger ist: Spiralförmig ist ihr Buchstabe G, das E hat vier Querstriche.
Der Text ist in der Form eines Briefs an die Enkelin der Erzählerin verfasst, die das Kind auf die Welt vorbereitet – und auf das Dasein als Frau darin. „Der Spalt“ öffnet einen weiten Assoziationsraum, vom Abgrund über Zwischenzeiten bis zum weiblichen Geschlecht, und wenn jemals jemand am literarischen Potential dieser Autorin gezweifelt hätte, dann dürfte die Lektüre dieses Erfahrungsvermächtnisses genügen, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Und Feuchtenbergers Bilder haben noch einmal ein neues Niveau erreicht: durch die Kombination von surrealen mit hyperrealistischen Darstellungen, von anthropomorphen Figuren mit visionären, von Bildern aus der Welt von Feuchtenbergers Kindheit mit Szenen der gegenwärtigen Pandemiesituation.
Erschienen ist „Der Spalt“, den die Autorin selbst als „graphischen Essay“ bezeichnet, im Canicola Verlag aus dem italienischen Bologna, der seit 2004 gemeinsam mit Coconino die Speerspitze der italienischen Comicavantgarde bildet. Keine Sorge: Es handelt sich dabei um eine deutschsprachige Ausgabe, denn die Villa Stuck war als Auftraggeberin mitbeteiligt, und bei Canicola hat man keine Scheu vor fremdsprachigen Produktionen – Anke Feuchtenberger zählt zu den Habitués des Hauses. Dementsprechend schwierig ist es aber auch, ihre dortigen Publikationen im deutschen Buchhandel zu finden. Dabei sind siebzehn Euro für dieses ungewöhnliche und prachtvoll gedruckte Heft ein Witzpreis. Die Auflage ist leider auch niedrig, also sollte man sich beeilen, wenn man noch in den Genuss kommen will. Auf der Homepage von Canicola wird der Band noch als erhältlich ausgewiesen, erfreulicherweise bietet Feuchtenbergers deutscher Verlag Reprodukt einen hiesigen Vertrieb des Heftes an (https://www.reprodukt.com/Produkt/Produkt/der-spalt/). Und das Münchner Gespräch mit Barbara Yelin über “Der Spalt” wird auch noch nachgeholt: am 19. Oktober um 19 Uhr in der Monacensia im Hildebrandhaus. Hoffentlich lässt es die Pandemielage zu.